Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust

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Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust

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nicht ohne Pikanterie). Vor geraumer Zeit machte Bergotte eine Reise nach Wien, während ich dort Botschafter war, wurde mir durch die Fürstin Metternich vorgestellt, schrieb sich ein und wünschte eingeladen zu werden. Als Auslandsvertreter Frankreichs, dem er alles in allem mit seinen Schriften Ehre gemacht hat, wenn auch nur in gewissem Grade, sagen wir, um genau zu sein, in recht mäßigem Grade, wäre ich über die ungünstige Meinung, die ich persönlich von seinem Privatleben habe, hinweggegangen. Aber er reiste nicht allein und beanspruchte obendrein, mit seiner Begleiterin eingeladen zu werden. Nun glaube ich nicht prüder zu sein als andere, und als Junggeselle konnte ich wohl auch die Türen der Gesandtschaft etwas weiter aufmachen, als wenn ich verheiratet und Familienvater gewesen wäre. Aber dennoch muß ich bekennen, es gibt einen Grad von sittlicher Haltlosigkeit, dem ich mich nicht anpassen kann und der noch peinlicher wird durch den mehr als moralischen, sagen wir gerade heraus, den moralisierenden Ton, den Bergotte in seinen Büchern anschlägt: da bekommt man ja immer wieder, noch dazu, unter uns, recht ermüdende Analysen von schmerzlichen Skrupeln, krankhaften Gewissensbissen über lauter Lappalien zu hören, ein recht billiges Tugendgeschwätz, und dabei zeigt sich der Verfasser in seinem Privatleben von geradezu zynischer Gewissenlosigkeit. Kurz, ich umging die Antwort, die Fürstin machte einen neuen Vorstoß, aber wieder ohne Erfolg. Wonach ich vermute, daß ich nicht grade im Geruch eines Engels bei dem Manne stehen mag, und ich weiß nicht, bis zu welchem Grade er Swanns Aufmerksamkeit, ihn mit mir zusammen einzuladen, geschätzt hat. Es sei denn, daß er selbst darum gebeten hatte. Man kann es bei ihm nicht wissen, er ist im Grunde ein kranker Mensch. Das ist sogar das Einzige, was ihn entschuldigt.«

      »War die Tochter von Frau Swann bei dem Diner?« fragte ich Herrn von Norpois und benutzte zu dieser Frage den Augenblick, in dem man in den Salon ging und meine Erregung sich leichter verbergen konnte als bei Tisch, wo ich in vollem Licht stillsitzen mußte. Herr von Norpois schien einen Augenblick in seinem Gedächtnis zu suchen:

      »Ein junges Mädchen von vierzehn bis fünfzehn Jahren? Ja, jetzt erinnere ich mich, daß sie mir vor dem Essen als Tochter unseres Gastgebers vorgestellt wurde. Allerdings habe ich sie nur wenig gesehen, sie ist früh schlafen gegangen. Oder zu ihren Freundinnen, ich besinne mich nicht mehr genau. Aber ich sehe, Sie wissen gut Bescheid im Hause Swann.«

      »Ich spiele mit Fräulein Swann in den Champs-Élysées, sie ist entzückend.«

      »Schau, schau! Ich hatte in der Tat den Eindruck, daß sie reizend ist. Allerdings muß ich Ihnen bekennen, ich glaube nicht, daß sie je ihrer Mutter gleichkommen wird, wenn ich das sagen darf, ohne in Ihnen ein allzu lebhaftes Gefühl zu verletzen.«

      »Der Gesichtsbildung nach finde ich Fräulein Swann schöner, aber ich bewundere auch ihre Mutter außerordentlich, ich gehe im Bois spazieren einzig in der Hoffnung, sie vorbeifahren zu sehen.«

      »Das muß ich den Damen sagen, sie werden sehr geschmeichelt sein.«

      Während Herr von Norpois diese Worte sprach, wußte er noch einige Sekunden lang nicht mehr von mir als alle, die mich etwa von Swann als einem intelligenten Manne reden hörten, von seinen Eltern als ehrenwerten Wechselmaklern, von seinem Haus als einem schönen Hause, und glaubten, ich würde ebenso gern von einem anderen ebenso intelligenten Manne, anderen ebenso ehrenwerten Wechselmaklern und einem anderen ebenso schönen Hause sprechen; es ist der Augenblick, in dem ein geistig gesunder Mensch, der mit einem Verrückten sich unterhält, noch nicht gemerkt hat, daß es ein Verrückter ist. Herr von Norpois wußte, daß die Freude am Anblick hübscher Frauen natürlich, daß es, wenn jemand mit Wärme von einer dieser Frauen spricht, guter Ton ist, zu tun, als halte man ihn für verliebt, ihn damit zu necken, ihm zu versprechen, seine Absichten zu unterstützen. Als er aber sagte, er werde Gilberte und ihrer Mutter von mir sprechen (und das erweckte in mir die Hoffnung, wie eine olympische Gottheit, die das Fließende eines Hauchs, wie Minerva, die die Erscheinung des Greises annimmt, selbst unsichtbar in den Salon von Frau Swann einzudringen, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, ihre Gedanken zu beschäftigen, Dankbarkeit für meine Bewunderung zu wecken und ihr als Freund eines bedeutenden Mannes künftighin würdig zu erscheinen, bei ihr eingeladen zu werden und mit ihrer Familie in vertrauten Verkehr zu treten), – da flößte mir dieser bedeutende Mann, der sein Ansehen in den Augen von Frau Swann zu meinen Gunsten benutzen wollte, plötzlich eine solche Zärtlichkeit ein, daß ich mich nur mit knapper Not enthalten konnte, ihm seine weichen weißen, etwas zerknitterten Hände, die aussahen, als hätten sie zu lange in Wasser gelegen, zu küssen. Fast deutete ich skizzenhaft diese Gebärde an, meinte aber, dies nur allein zu bemerken. Es ist ja für jeden von uns schwer, genau zu berechnen, in welchem Grade sich seine Worte und Bewegungen anderen einprägen. Wir fürchten die eigene Wichtigkeit zu übertreiben, wir vergrößern bei uns bis ins Ungemessene das Feld, auf das sich die Erinnerungen der anderen im Lauf ihres Lebens erstrecken mögen, und bilden uns dann ein, das Zubehör unserer Reden und Haltungen könne kaum in das Bewußtsein derer, welche mit uns sprechen, dringen, geschweige denn in ihrem Gedächtnis haften bleiben. Eine derartige Vermutung veranlaßt die Verbrecher, nachträglich ein Wort zu retuschieren, das sie ausgesprochen haben und von dem sie nun annehmen, man könne die neue Variante mit keiner anderen Version konfrontieren. Und doch ist es wohl möglich, daß selbst für das tausendjährige Leben des Menschengeschlechtes die Weltanschauung des Feuilletonisten, nach der alles dem Vergessen ausgesetzt ist, weniger zutrifft als eine entgegengesetzte, welche die Erhaltung aller Dinge vorhersagt. In einer Zeitung, in welcher der Leitartikel-Philosoph von einem Ereignis, einem Meisterwerk oder, mit mehr Grund, von einer Sängerin, die »die Stunde ihres Ruhmes hat«, sagt: »Wer wird sich in zehn Jahren noch all dessen entsinnen?« – steht vielleicht auf der dritten Seite ein Bericht der Academie des Inscriptions über ein an sich wenig wichtiges Faktum, ein Gedicht von geringem Wert, das aus der Zeit der Pharaonen stammt und noch vollständig erhalten ist. Vielleicht ist es nicht ganz dasselbe im kurzen Menschenleben. Und doch überraschte mich ein Erlebnis, das ich ein paar Jahre später in einem Hause hatte, in dem Herr von Norpois zu Besuch war: ich meinte dort an ihm die beste Stütze zu haben, weil er meines Vaters Freund, nachsichtig, uns allen gegenüber zum Wohlwollen geneigt und überdies durch Herkunft und Beruf an Diskretion gewöhnt war. Als er aber fortgegangen war, erzählte man mir, er habe eine Anspielung gemacht auf eine frühere Gesellschaft, bei der er mich »drauf und dran gesehen habe, ihm die Hände zu küssen«; und ich wurde nicht nur rot bis über die Ohren, ich war auch ganz verblüfft, wie sehr die Art und Weise, in der er von mir gesprochen, und der ganze Aufbau seiner Erinnerungen von meinen Erwartungen abstach; dieser »Klatsch« klärte mich auf über die unerwarteten Proportionen, die im menschlichen Geiste Zerstreutheit und Geistesgegenwart, Erinnerung und Vergessen gewinnen: und ich war ebenso gewaltig überrascht wie an dem Tage, als ich zum ersten Male in einem Buch von Maspero las, daß man die genaue Liste der Jäger besitzt, die Assurbanipal zehn Jahrhunderte vor Christi Geburt zur Treibjagd eingeladen hat.

      »Ach, Herr von Norpois,« sagte ich, als er mir zu verstehen gab, er werde Gilberte und ihrer Mutter die Bewunderung mitteilen, die ich für beide hegte, »wenn Sie das täten, wenn Sie zu Frau Swann von mir sprächen, mein ganzes Leben würde nicht hinreichen, meine Dankbarkeit Ihnen zu beweisen, es würde Ihnen gehören, dieses Leben! Aber ich darf Ihnen nicht verschweigen, daß ich Frau Swann nicht persönlich kenne und ihr nie vorgestellt worden bin.« Die letzten Worte hatte ich aus Gewissenhaftigkeit hinzugefügt, es sollte nicht so aussehen, als rühme ich mich einer Beziehung, die ich nicht besaß. Aber schon beim Aussprechen fühlte ich das Nutzlose meiner Worte, denn mit dem Beginn meiner Dankesergüsse, deren Glut offenbar abkühlend wirkte, sah ich ein verdrossenes Zögern über das Gesicht des Botschafters gehen und bemerkte in seinen Augen jenen vertikalen, schrägen, kargen Blick (Fluchtlinie einer stereometrischen Zeichnung), jenen Blick, der sich an den unsichtbaren Unterredner im eigenen Innern wendet im Moment, da man ihm etwas zu sagen hat, das der andere Unterredner, der Herr, mit dem man bisher sprach – im gegebenen Fall also ich – nicht vernehmen soll. Augenblicklich wurde mir klar: meine eben ausgesprochenen Worte, – so schwach im Vergleich mit dem Strom von Dankbarkeit, der mich überflutete, – die Herrn von Norpois rühren und endgültig zu einer Vermittlung bestimmen sollten, die ihm so wenig Mühe, mir so viel Freude gemacht hätte, waren vielleicht (unter allen,

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