Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust

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Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust

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wenn wir mit einem Unbekannten über Vorübergehende, die wir übereinstimmend banal finden, mit Behagen vermeintlich ähnliche Eindrücke austauschen und dieser Mensch uns mit einmal den pathologischen Abgrund zeigt, der ihn von uns trennt, indem er nach seiner Tasche tastend nachlässig äußert: »Zu schade, daß ich meinen Revolver nicht bei mir habe, es bliebe keiner von den Kerlen am Leben.« Obwohl Herr von Norpois wußte, daß nichts belangloser und leichter war als Frau Swann empfohlen und bei ihr eingeführt zu werden, sah er nun, daß dies für mich etwas sehr Wertvolles und somit ohne Zweifel Schwieriges bedeute. Da dachte er, daß hinter meinem anscheinend normalen Begehren ein Hintergedanke, eine verdächtige Absicht, ein früherer Verstoß sich verbergen müsse, derentwegen es bisher niemand hatte auf sich nehmen wollen, Frau Swann einen Auftrag von mir zu übermitteln – im sicheren Gefühl, damit nur Mißfallen bei ihr hervorzurufen. Und ich begriff, nie werde er diesen Auftrag ausrichten, jahrelang könne er Frau Swann täglich sehen, ohne ihr nur ein einziges Mal von mir zu sprechen. Indessen bat er sie einige Tage später um eine Auskunft, die ich gewünscht hatte, und beauftragte meinen Vater, mir diese zu übermitteln. Aber er hatte es nicht für nötig erachtet, Frau Swann zu sagen, für wen er die Auskunft erbat. Sie sollte also nicht erfahren, erstens, daß ich Herrn von Norpois kannte, und zweitens, daß ich so sehr wünschte, sie zu besuchen: und dies Unglück war vielleicht nicht so groß, als ich glaubte. Denn die zweite Mitteilung hätte vermutlich die so schon ungewisse Wirksamkeit der ersten nicht verstärkt. Für Odette hatte die Vorstellung ihres eigenen Lebens und ihrer Wohnung nichts geheimnisvoll Verwirrendes, und jemand, der sie kannte und besuchte, schien ihr kein Fabelwesen, wie er für mich es war, für mich, der ich einen Stein in die Fenster der Swann geworfen hätte, wenn ich darauf »ich kenne Herrn von Norpois« hätte schreiben können: war ich doch überzeugt, eine solche Botschaft, selbst auf derart brutale Weise übermittelt, würde mir in den Augen der Herrin des Hauses eher großes Ansehen geben als sie gegen mich verstimmen. Aber selbst wenn mir klar gewesen wäre, daß die Mission, deren sich Herr von Norpois nicht entledigte, auf alle Fälle nutzlos bliebe, ja, sogar bei den Swann mir schaden konnte, ich hätte nicht den Mut gehabt, falls der Botschafter sich entgegenkommend gezeigt hätte, ihn von dem Auftrag zu entbinden und auf die Wollust – so verhängnisvoll sie auch werden konnte – zu verzichten, daß mein Name und meine Person sich so einen Augenblick bei Gilberte in ihrem unbekannten Haus und unbekannten Leben einfänden.

      Als Herr von Norpois fort war, warf mein Vater einen Blick in die Abendzeitung; ich dachte wieder an die Berma. Die Freude, die ich gehabt hatte, sie zu hören, forderte eine Ergänzung, um so mehr, als sie bei weitem nicht der gleichkam, die ich mir versprochen hatte; so machte sie sich gleich alles zu eigen, was irgend imstande war, ihr Nahrung zu geben, zum Beispiel die Vorzüge, die Herr von Norpois der Künstlerin zuerkannte und die mein Geist gierig aufgesogen hatte wie eine ausgedörrte Wiese, auf die man Wasser gießt. Mein Vater reichte mir die Zeitung und zeigte mir eine Notiz, in der es hieß: ›Die Aufführung der Phèdre vor einem begeisterten Publikum, in dem man die hervorragendsten Vertreter der Kunstwelt und Kritik bemerkte, gab Frau Berma Gelegenheit zu einem Triumph, wie sie in ihrer ganzen glorreichen Laufbahn wohl kaum einen größeren davongetragen hat. Wir werden ausführlicher auf diese Vorstellung, die ein Ereignis im Theaterleben bedeutet, zurückkommen; hier sei nur gesagt, daß die kompetentesten Beurteiler übereinstimmend erklären, eine derartige Auffassung mache etwas ganz Neues aus Phèdre, einer der schönsten und bedeutendsten Rollen Racines, und sei die reinste, höchste künstlerische Manifestation, der man in unserer Zeit beiwohnen könne.‹ Kaum hatte mein Geist die neue Wendung ›reinste, höchste künstlerische Manifestation‹ erfaßt, so durchdrang sie die unvollkommene Freude, die ich im Theater gehabt, gab ihr ab von dem, was ihr fehlte, und aus ihrer Vereinigung kam etwas so Schwärmerisches zustande, daß ich ausrief: »Welch große Künstlerin!« Man wird sagen, ich sei nicht ganz aufrichtig gewesen. Aber man denke doch an all die Schriftsteller, die unzufrieden sind mit dem, was sie gerade geschrieben haben, nun lesen sie ein Lob auf den Genius Châteaubriands oder vergegenwärtigen sich irgend einen großen Künstler, dem sie zu gleichen wünschen, sie summen zum Beispiel eine Melodie von Beethoven vor sich hin, deren Schwermut sie vergleichen mit der, die sie in ihre Prosa legen wellten, sie erfüllen sich ganz mit der Idee des Genialen, fügen sie in Gedanken der eigenen Produktion ein, sehen diese nun anders als sie ihnen erst vorkam, und riskieren mit einem inneren ›Immerhin!‹ ein Bekenntnis zum Werte des eigenen Werkes, ohne zu merken, daß sie in das Gesamtgefühl, das ihre schließliche Zufriedenheit bestimmt, die Erinnerung an wunderbare Seiten Châteaubriands aufnehmen, die sie ihren eigenen assimilieren, aber doch nun einmal nicht geschrieben haben; man erinnere sich an all die Männer, die an die Gegenliebe einer Geliebten glauben, von der sie nichts als Verrat erleben; an alle, welche auf ein unfaßbares Weiterleben hoffen, ob sie nun als untröstliche Gatten an die verlorene, geliebte Frau, als Künstler an den möglichen künftigen Ruhm denken, oder aber auf ein sicheres Nichts, wenn ihr Bewußtsein sich Verfehlungen vergegenwärtigt, die sie nach ihrem Tode sonst abbüßen müßten; man denke auch an die Touristen, die begeistert vom Ganzen einer Reise sind, auf der sie Tag für Tag nur Verdruß gehabt haben; dann sage man, ob es bei dem Zusammenleben, wie es in unserm Innern die Vorstellungen führen, anders möglich ist, als daß auch die, die uns am meisten Glück schenkt, zuerst als rechter Schmarotzer von einer fremden Nachbarvorstellung den besten Teil der Kraft, die ihr selbst mangelte, entliehen hat.

      Meine Mutter schien nicht sehr zufrieden damit, daß mein Vater den Gedanken an die ›Karriere‹ für mich aufgegeben hatte. Da ihr vor allem am Herzen lag, daß eine regelmäßige Existenz die Launen meiner Nerven diszipliniere, ging ihr, glaub ich, mein Verzicht auf die Diplomatie weniger nahe als die Wendung zur Literatur. »Laß gut sein!« rief der Vater. »Man muß vor allem an dem, was man treibt, Freude haben. Er ist kein Kind mehr. Er weiß jetzt genau, was er liebt; es ist kaum anzunehmen, daß sein Geschmack sich ändert; er ist fähig, sich Rechenschaft zu geben über das, was ihn im Leben glücklich machen wird.« Diese Worte des Vaters, die mir die Freiheit aufzwangen, glücklich oder unglücklich im Leben zu werden, machten an jenem Abend mir großen Kummer. Jederzeit hatten seine unvorhergesehenen Freundlichkeiten, wenn sie plötzlich zum Vorschein kamen, mir Verlangen erregt, ihm über dem Bart die geröteten Wangen zu küssen, und nur aus Furcht, ihm zu mißfallen, gab ich diesem Triebe nicht nach. Nun ging es mir wie einem Autor, der erschrocken sieht, wie seine persönlichen Träumereien, die ihm ohne besonderen Wert erscheinen, weil er sie nicht von sich selbst trennt, einen Verleger zwingen, Papier auszuwählen und eine Schrift setzen zu lassen, die vielleicht viel zu schön dafür ist: ich fragte mich, ob meine Lust zu schreiben etwas so Wichtiges sei, daß mein Vater soviel Güte an sie vergeuden dürfe. Und indem er von meinem Geschmack, der sich nicht mehr ändern, von der Beschäftigung, die mein Leben glücklich machen werde, sprach, flößte er mir zwei schreckliche Vermutungen ein. Die erste: während ich mich Tag für Tag noch auf der Schwelle eines unberührten Lebens wähnte, das morgen früh erst beginnen sollte, hatte also meine Existenz schon angefangen, ja, mehr noch, das, was später kommen werde, würde nicht sehr verschieden sein von dem Vorhergegangenen. Der zweite Verdacht war eigentlich nur eine andere Form des ersten: ich stand nicht mehr außerhalb der Zeit, sondern war ihren Gesetzen unterworfen ganz wie die Romanpersonen, die mich deshalb so traurig machten, wenn ich in meinem Strandkorb zu Combray ihr Leben las. Theoretisch weiß man, daß die Erde sich dreht, tatsächlich aber merkt man es nicht, der Boden, auf dem man geht, scheint sich nicht zu bewegen, und man lebt in Ruhe. Ebenso ist es im Leben mit der Zeit. Um ihre Flucht fühlbar zu machen, sind die Romanschriftsteller gezwungen, den Gang der Zeiger toll zu beschleunigen und den Leser in zwei Minuten zehn, zwanzig, dreißig Jahre durcheilen zu lassen. Auf der einen Seite oben hat man einen hoffnungsvollen Liebenden verlassen, unten auf der nächsten findet man ihn wieder als Achtzigjährigen, der im Hof eines Spitals mühselig seinen täglichen Rundgang zustande bringt und kaum auf die an ihn gerichteten Worte erwidert, da die Vergangenheit ihm entfallen ist. Als mein Vater von mir sagte: »Er ist kein Kind mehr, sein Geschmack wird sich nicht mehr ändern«, hatte er bewirkt, daß ich mir nun selbst plötzlich in die Zeit eingetan erschien, und das machte mich so traurig, als wäre ich, wenn auch noch nicht der schwachsinnige Spittelgreis, so doch einer der Romanhelden, von denen der Verfasser am Ende des Buches in gleichgültigem und daher um so quälenderem Ton sagt: ›Seltener und seltener verläßt er nun das Land. Er hat sich für immer dort niedergelassen, etc.‹ Um der

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