Die wichtigsten Werke von Oscar Wilde. Оскар Уайльд
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Er schauderte, und einen Augenblick lang tat es ihm leid, daß er Basil nicht den wahren Grund gesagt habe, warum er das Bild verstecken wolle. Basil hätte ihm helfen können, sowohl dem Einfluß Lord Henrys zu widerstehen, als auch den noch viel giftigeren Einflüssen, die aus seiner eigenen Natur herrührten. Die Liebe, die Basil für ihn hegte – denn es war wirklich Liebe –, schloß nichts ein, was nicht edel und vergeistigt wäre. Es war nicht jene rein physische Bewunderung, die eine Geburt der Sinne ist und mit der Ermüdung der Sinne hinstirbt. Es war eine Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne und Winkelmann und auch Shakespeare. Ja, Basil hätte ihn retten können. Aber jetzt war es zu spät. Die Vergangenheit konnte immer vernichtet werden. Reue, Verleugnung oder Vergessenheit konnten das bewirken. Aber die Zukunft war unabwendlich. Er hatte Leidenschaften in sich, die ihr fürchterliches Ausfalltor bei ihm finden würden, Träume, die ihre sündigen Schatten zur Wirklichkeit umwandeln würden.
Er griff nach dem großen Überwurf aus Purpur und Gold, der den Diwan bedeckte, hob ihn mit beiden Händen auf und ging damit hinter den Schirm. War das Gesicht auf der Leinwand jetzt häßlicher als vorher? Es erschien ihm unverändert; und doch, sein Abscheu davor war noch verstärkt. Goldiges Haar, blaue Augen, rosenrote Lippen – das war alles da. Nur der Ausdruck hatte sich verwandelt. Der war erschreckend in seiner Grausamkeit. Im Vergleich zu den Vorwürfen und der Rüge, die er in dem Bilde sah, wie nichtssagend waren da Basils Vorhaltungen über Sibyl Vane gewesen – nichtssagend und belanglos! Seine eigene Seele sah ihn an aus der Leinwand und forderte ihn vors Gericht. Ein schmerzlicher Zug legte sich über sein Gesicht, und er warf die prunkvolle Sofadecke über das Bild. Während er dies tat, klopfte es an die Tür. Er kam hinter dem Wandschirm hervor, als sein Bedienter eintrat.
»Die Leute sind da, Monsieur.«
Er hatte das Gefühl, daß er den Mann jetzt los werden müsse. Er durfte nicht wissen, wohin das Bild sollte. Er hatte etwas Listiges an sich und nachdenkliche, verräterische Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch, kritzelte ein paar Zeilen hin an Lord Henry, worin er bat, ihm etwas zum Lesen zu schicken, und worin er ihn daran erinnerte, daß sie sich um viertel neun heut abend treffen wollten.
»Warten Sie auf Antwort,« sagte er, indem er ihm den Brief übergab, »und lassen Sie die Leute herein.«
Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder, und Herr Hubbard, der berühmte Rahmenfabrikant aus South Audley Street, trat mit einem struwwelig aussehenden Gehilfen herein. Herr Hubbard war ein blühend aussehender, rotbäckiger, kleiner Mann, dessen Bewunderung für die Kunst beträchtlich vermindert worden war durch den althergebrachten Geldmangel bei den meisten Künstlern, die mit ihm zu tun hatten. In der Regel verließ er seine Werkstatt nie. Er wartete, bis die Leute zu ihm kamen. Aber bei Dorian Gray, machte er immer eine Ausnahme. Es war etwas an Dorian, was jeden entzückte. Ihn nur zu sehen, das war schon ein Vergnügen.
»Was steht zu Ihren Diensten, Herr Gray?« fragte er und rieb seine fetten, sommersprossigen Hände. »Ich dachte, ich wollte mir selbst die Ehre geben, herüberzukommen. Ich habe gerade ein Prachtstück von Rahmen da. Bei einer Auktion ergattert. Alt-Florentiner. Stammt aus Fonthill, vermute ich. Wundervoll geeignet für einen religiösen Gegenstand, Herr Gray.«
»Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben, Herr Hubbard. Ich werde gern mal vorbeikommen und den Rahmen ansehen – obwohl ich mich gerade jetzt nicht sehr für religiöse Kunst interessiere – aber heute möchte ich nur ein Bild auf den Boden getragen haben. Es ist ziemlich schwer, deshalb dachte ich mir, daß Sie so gut wären, mir zwei von Ihren Leuten zu leihen.«
»Hat gar nichts zu sagen, Herr Gray. Freue mich, wenn ich Ihnen den kleinsten Dienst leisten kann. Wo ist das Kunstwerk, gnädiger Herr?«
»Dies da«, antwortete Dorian und schob den Schirm zurück. »Können Sie es so hinaufbringen, wie es jetzt ist, Decke und Bild zusammen? Ich möchte nicht, daß es die Treppen hinauf zerschrammt wird.«
»Das werden wir leicht kriegen«, sagte der muntere Rahmenmacher und begann mit Hilfe von seinem Gesellen das Bild von den langen Messingketten loszumachen, an denen es aufgehängt war. »Und wo soll es jetzt hingebracht werden, Herr Gray?«
»Ich will Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn Sie so gut sein wollen, mir nur zu folgen. Oder vielleicht gehen Sie lieber voraus. Es tut mir leid, aber es ist ganz oben. Wir wollen über die Vordertreppe gehen, die ist breiter.«
Er hielt ihnen die Tür auf, und sie gingen in den Vorraum hinaus und fingen an, hinaufzusteigen. Die ausladenden Verzierungen des Rahmens hatten das Bild sehr umfangreich gemacht, und hin und wieder legte Dorian mit Hand an, um ihnen zu helfen, trotz den unterwürfigen Einwänden des Herrn Hubbard, der die lebhafte Abneigung des wirklichen Handwerkers gegen jede nützliche Beschäftigung eines vornehmen Herrn hatte.
»Da hat man ein ziemliches Gewicht zu schleppen«, pustete der kleine Mann, als sie den letzten Treppenabsatz erreicht hatten. Und er trocknete sich die glänzende Stirn.
»Es tut mir leid, daß es so schwer ist«, murmelte Dorian, während er die Tür zu dem Zimmer aufschloß, das dieses sonderbare Geheimnis seines Lebens aufbewahren und seine Seele vor den Blicken der Menschheit schützen sollte.
Er hatte die Stube wohl länger als vier Jahre nicht betreten – in Wirklichkeit nicht, seitdem sie ihm in seiner Kindheit zuerst als Spielzimmer, und dann, als er etwas älter war, als Studierzimmer gedient hatte. Es war ein großer Raum von schönen Verhältnissen, den der verstorbene Lord Kelso eigens zur Benutzung für seinen kleinen Enkel angebaut hatte, den er wegen seiner fabelhaften Ähnlichkeit mit seiner Mutter und auch noch aus anderen Gründen immer gehaßt hatte und möglichst weit weg von sich haben wollte. Der Raum schien Dorian wenig verändert. Da war der mächtige italienische Cassone mit den phantastisch bemalten Füllungen und den abgenutzten goldenen Ornamenten, in dem er sich als Junge oft versteckt hatte. Da stand der polierte Bücherschrank aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voll Eselsohren. An der Wand darüber hing noch derselbe zerfaserte flämische Gobelin, auf dem ein verblichener König und eine Königin in einem Garten Schach spielten, während ein Trupp von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren Panzer-Handschuhen Vögel mit lappenverhüllten Köpfen trugen. Wie gut er sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner vereinsamten Kindheit kam ihm vors Gedächtnis, während er sich umsah. Er entsann sich der fleckenlosen Reinheit seines Knabenlebens, und es schien ihm furchtbar, daß gerade hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen werden sollte. Wie wenig hatte er in diesen längst verrauschten Tagen von alledem geahnt, was seiner warten sollte!
Aber kein anderer Ort im ganzen Hause war so sicher vor neugierigen Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel, und jetzt konnte niemand weiter hinein. Hinter dem purpurnen Bahrtuch konnte nun das gemalte Gesicht auf der Leinwand tierisch, gedunsen und lasterhaft werden. Was lag daran? Niemand konnte es sehen. Er selbst wollte es nicht sehen. Warum sollte er die gräßliche Verwesung seiner Seele verfolgen? Er behielt seine Jugend – das mußte genügen. Und übrigens, konnte sein Wesen trotz allem nicht edler werden? Es war kein Grund vorhanden, daß die Zukunft so angefüllt von Lastern sein müsse. Die Liebe konnte in sein Leben treten und ihn läutern