Die wichtigsten Werke von Oscar Wilde. Оскар Уайльд
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Читать онлайн книгу Die wichtigsten Werke von Oscar Wilde - Оскар Уайльд страница 46
Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen Pelz an, setzte seinen Hut auf und ging in die Vorhalle hinaus. Dort blieb er stehen, weil er den langsamen, schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem Pflaster hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne im Türfenster sah. Er wartete und hielt den Atem an.
Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück und schlüpfte hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend. Dann zog er die Klingel. Nach etwa fünf Minuten erschien sein Diener, halb angezogen und sehr verschlafen.
»Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis«, sagte er eintretend und ging die Stufen hinauf; »aber ich habe meinen Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?«
»Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr«, sagte der Mann mit einem blinzelnden Blick auf die Uhr.
»Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu tun.«
»Zu Befehl, gnädiger Herr.«
»War jemand heute abend hier?«
»Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf Uhr gewartet und ging dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.«
»Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe. Sollen Sie mir etwas bestellen?«
»Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben würde, wenn er Sie im Klub nicht treffen sollte.«
»Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun zu wecken.«
»Nein, gnädiger Herr!«
Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg die Dienertreppe hinab.
Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und trat ins Bücherzimmer. Eine Viertelstunde lang ging er auf und ab, biß sich auf die Lippen und grübelte. Dann nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann zu blättern. »Alan Campbell, Hertford Street 152, Mayfair.« Ja, das war der Mann, den er brauchte.
VIERZEHNTES KAPITEL
Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener mit einer Tasse Schokolade auf einem Servierbrett herein und öffnete die Fensterläden. Dorian lag auf der rechten Seite, eine Hand unter seiner Wange und schlief ganz friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder Lernen müde geworden ist.
Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, bevor er aufwachte, und als er die Augen öffnete, huschte ein leichtes Lächeln über seine Lippen, als wäre er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder von Bildern der Freude noch des Grauens gestört worden. Doch die Jugend lächelt ohne Grund. Das ist einer ihrer besonderen Reize.
Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann seine Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne strömte in das Zimmer. Der Himmel war wolkenlos, eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein Maimorgen.
Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen Nacht auf lautlosen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und bauten sich dort mit furchtbarer Deutlichkeit wieder auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis an alles, was er durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in ihm derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der ihn dazu getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl saß, er wurde kalt vor Wut. Der Tote saß noch immer da oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie schrecklich das war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit, nicht an den Tag.
Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn er über das brütete, was er hinter sich hatte. Es gibt Sünden, deren Reiz mehr in der Erinnerung liegt als in der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz Genüge tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein Lustgefühl geben, das stärker ist als jede Wonne, die sie Sinnen verschaffen oder jemals verschaffen können. Aber diesmal war es keine von diesen. Dies war eine, die man aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften, die man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst ersticken würde.
Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, stand dann rasch auf und zog sich beinahe mit noch größerer Sorgfalt an, als gewöhnlich, indem er die größte Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner Krawatte und seiner Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal wechselte. Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit, kostete von den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem Bedienten über neue Livreen, die er der Dienerschaft in Selby machen lassen wollte, und sah seine Briefschaften durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei ödeten ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn dann mit einem leichten Ärger in seinen Mienen. »Was für ein gräßliches Ding das Gedächtnis einer Frau ist«, hatte Lord Henry einmal gesagt.
Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte, trocknete er die Lippen langsam an seiner Serviette ab, gab dem Diener ein Zeichen zu warten, ging zum Schreibtisch hinüber, setzte sich und schrieb zwei Briefe. Einen steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem Diener.
»Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis, und wenn Herr Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie sich seine Adresse geben.«
Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an und begann auf einem Blatt Papier Skizzen zu machen, zeichnete zuerst Blumen, dann Architekturstücke und dann menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, daß jedes Gesicht, das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit Basil Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, ging zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen Band heraus. Er war fest entschlossen, an das Geschehene nicht eher zu denken, als bis es unbedingt notwendig war.
Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf den Titel des Buches. Es waren Gautiers »Emaux et Camées«, Charpentiers Ausgabe auf japanischem Papier, mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von goldenem Laubwerk und Granatäpfeln in Punktmanier. Es war ein Geschenk Adrian Singletons. Als er darin blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand Lacenaires, die kalte gelbe Hand »du supplice encore mal lavée«, mit ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren »doigts de faune«. Er blickte auf seine eigenen weißen, spitzen Finger, schauderte unwillkürlich zusammen, las dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig kam.
Sur une gamme chromatique,
Le sein de perles ruisselant
La Vénus de l'Adriatique
Sort de l'eau son corps rose et blanc.
Les dômes, sur l'azur des ondes
Suivant la phrase au pur contur,
S'enlent comme des gorges rondes
Que soulève un soupir d'amour.
L'esquif aborde et me dépose,
Jetant son amarre au pilier
Devant une façade rose,
Sur le marbre d'un escalier.