Die wichtigsten Werke von Oscar Wilde. Оскар Уайльд
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Devant une façade rose
Sur le marbre d'un escalier.
Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten. Er dachte an den Herbst, den er dort verbracht hatte, und eine himmlische Liebelei, die ihn zu wahnsinnigen, entzückenden Torheiten getrieben hatte. Es gab Romantik in jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford den Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren Romantiker ist der Hintergrund alles oder fast alles. Basil war einen Teil der Zeit bei ihm gewesen und war ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben!
Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. Er las von den Schwalben, die aus- und einfliegen in dem kleinen Café zu Smyrna, wo die Hadjis sitzen und ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen, und wo die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten Pfeifen rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las von dem Obelisk auf der Place de la Concorde, der in seiner vereinsamten, sonnenlosen Verbannung granitene Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, lotosbedeckten Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse und weiße Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit kleinen Beryllaugen, die durch den grünen, dampfenden Schlamm dahinkriechen: er fing an, den Versen nachzusinnen, die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren Statue erzählen, die Gautier einer Altstimme vergleicht, von dem » monstre charmant«, das in dem Porphyrsaal des Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel seinen Händen das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht in England war? Tage könnten möglicherweise verstreichen, bevor er zurückkäme. Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. Was sollte er dann tun? Jeder Augenblick war von tödlicher Bedeutung.
Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf Jahren – sogar fast unzertrennlich. Dann hatte die Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie sich jetzt in Gesellschaft trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da lächelte, niemals Alan Campbell.
Er war ein außerordentlich begabter junger Mann, wenn er auch kein eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren Künsten hatte, und der geringe Sinn für Poesie, den er besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die geistige Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil seiner Zeit mit Arbeiten im Laboratorium verbracht und hatte sein Examen in den Naturwissenschaften mit vorzüglich bestanden. Noch jetzt war er dem Studium der Chemie ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum großen Kummer seiner Mutter, die sich darauf verbissen hatte, daß er für das Parlament kandidieren sollte, und die eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker sei ein Mensch, der Rezepte anfertige. Indessen war er ein ausgezeichneter Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich, die Dorian Gray und ihn zueinander gebracht hatte – die Musik und die unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian ausüben konnte, wenn er wollte, und auch oft ausübte, ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei Lady Berkshire an dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte, und man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und überall, wo es gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte diese Freundschaft. Campbell war regelmäßig entweder in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung alles dessen, was wunderbar und bezaubernd im Leben ist. Ob zwischen ihnen ein Streit vorgefallen war oder nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten die Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich trafen, und daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig verließ, in der Dorian anwesend war. Er war auch verändert – bisweilen merkwürdig melancholisch, schien kaum noch Musik hören zu können, spielte nie mehr selbst und gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung an, daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme, daß er keine Zeit mehr zum Üben habe. Und das war auch der Fall. Er schien jeden Tag mehr Interesse für biologische Studien zu gewinnen, und sein Name erschien ein- oder zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung mit gewissen außergewöhnlichen Experimenten.
Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete. Jede Sekunde blickte er auf die Uhr. Als Minute um Minute verstrich, wurde er furchtbar aufgeregt. Schließlich stand er auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte weiten Schrittes, fast sprunghaft, aus und trat leise auf. Seine Hände waren eigentümlich kalt.
Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm mit bleiernen Füßen zu schleichen, während er von ungeheuren Wirbelwinden zum zackigen Grat einer schwarzen Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte, was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd mit feuchten Händen seine brennenden Lider zusammen, als wolle er sein Gehirn der Sehkraft berauben und die Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war umsonst. Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich mästete, und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft krümmte sich vor Schmerz wie ein lebendes Wesen, tanzte wie eine widerwärtige Marionette in einer Schaubude und grinste durch bewegliche Masken hindurch. Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da sie tot war, stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle über ihn hin und zerrten eine scheußliche Zukunft aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er starrte darauf hin. Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn.
Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein. Er wandte ihm seine gläsernen Augen zu.
»Herr Campbell, gnädiger Herr«, sagte der Mann.
Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen Lippen und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.
»Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.« Er fühlte, daß er wieder er selbst war. Der Anfall von Feigheit war überwunden.
Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen Augenblicken trat Alan Campbell ein, mit sehr strengem Gesicht und etwas bleich, und seine blasse Farbe wurde durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen noch verstärkt.
»Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß du gekommen bist.«
»Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten, Gray. Aber du schriebst, es handle sich um Leben und Tod.« Seine Stimme war hart und kalt. Er sprach langsam und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes und schien die Bewegung, mit der ihm die Hand entgegengestreckt worden war, nicht zu bemerken.
»Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr als einen Menschen, Alan. Setze dich.«
Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian setzte sich ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid. Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich.
Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er sich nach vorn und sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes ablesend, den er hatte holen lassen: »Alan, in einem verschlossenen Dachzimmer dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger Mensch außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann an einem Tisch. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Bleib' ruhig sitzen und sieh mich nicht so an. Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich nicht kümmern. Was du zu tun hast, ist –«