Die Ökonomie der Hexerei. David Signer
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Ökonomischer Aspekt: Hexerei hat immer eine ökonomische Dimension – sie wird als pervertiertes Verhältnis von Eigen und Nicht-Eigen betrachtet. Analog zum politischen Aspekt könnte man sagen: In Afrika wird Reichtum – im Gegensatz zu unserer christlichen Kultur – nicht moralisch infrage gestellt, aber ähnlich wie bei der Macht versucht man, an ihm zu partizipieren. Wie Augé sagt: Die Moral steht weder der Macht noch dem Besitz entgegen; der „Starke“ hat das Recht auf seiner Seite. Dafür lastet der Imperativ des Teilens umso schwerer auf ihm (Position des grand-frère, Patron-Klient-Verhältnis). Kommt er dieser egalisierenden Forderung nicht nach, zieht er den Neid auf sich, und das heißt, eine drohende Verhexung. Vielleicht gerade weil der Reichtum nicht moralisch entwertet werden kann, ist der Neid umso größer, und weil die kapitalistischen psycho-ökonomischen Schranken zwischen Mein und Dein (noch) nicht wirklich aufgerichtet sind (auch als Eigenlegitimation), prallt der Neid nicht an der Indifferenz des Beneideten ab, sondern richtet dort psychisch etwas an, was in Afrika eben „Verhexung“ genannt wird.
Psychologischer Aspekt: Nun partizipiert heute in Afrika natürlich ein großer Teil der Bevölkerung sowohl an einem traditional-egalitären Wertesystem (wer sich über die Gemeinschaft bzw. seine zugeschriebene Position zu erheben versucht, wird bestraft, geächtet, beneidet, „verhext“) als auch an städtisch-kapitalistischen Erwartungen (Bildungserwerb, sozialer Aufstieg, politische Partizipation, Konkurrenz, Kapitalakkumulation). Nicht umsonst ist der häufigste Anlass einer Verhexung der Besuch eines „Aufsteigers“ in seinem Heimatdorf. Pointiert formuliert: In der Stadt wird erwartet, dass er spart, akkumuliert und langfristig investiert, auf dem Dorf wird jeder Franc, der nicht geteilt wird, als vorenthalten und asozial betrachtet und geächtet.21 Psychologisch müsste man von einer Doublebind-Situation sprechen: „Du sollst es einmal weiter bringen als dein Vater“ versus „Du darfst deinen Vater nicht überholen“; „Je weniger du (aus-)gibst, umso mehr hast du“ versus „Je mehr du gibst, umso mehr wirst du bekommen“ usw. Es fällt nicht schwer, diese paradoxen kommunikativen Prädispositionen der Verhexung aus psychologischer Sicht als pathogen oder zumindest als eminent Stress auslösend zu erkennen. Der Heiler schafft durch die Interpretation dieser Probleme als „Verhexung“ zwar individuelle Erleichterung, aber er tritt gewissermaßen als Retter von etwas auf, dessen Hauptproduzent er zugleich ist. Durch den angebotenen Schutz vor Verhexung perpetuiert er zugleich dieses System.
Hexerei ist gruppenpsychologisch nur verständlich, wenn man diesen radikalen Bezug zum andern in Rechnung stellt, wie er sich in der Neidproblematik manifestiert („das Übel kommt immer von außen“), aber auch in den traditionellen afrikanischen Vorstellungen über die Psyche als Konglomerat zwischen individuellen und kollektiven Anteilen, das die Grenzen von Ich/Nicht-Ich, Körper/Psyche, Biologie/Psychologie/Soziologie überscheitet (Problem der Ahnenseele, des „Gruppen-Ich“, der „(In-)Dividualität“, der Anwesenheit der Toten, des „Double“, des „Seelenfressers“, des Fetischs). In diesem Sinne greift es psychologisch zu kurz, Hexerei nur individualistisch als Projektion, Phantasie, Paranoia oder Regression zu interpretieren. Hexerei mag aus „materialistischer“ Sicht inexistent sein, aber sie deswegen einfach als phantasmatisch abzutun und gewissermaßen als „sozialwissenschaftlich“ nicht faßbar zu erklären, würde der afrikanischen gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gerecht und wäre mithin ethnozentrisch. Hexerei ist eine Realität – keine „materielle“, aber eine soziale. Als Praxis tendiert sie dazu, das zu produzieren, was sie voraussetzt, eine Wirklichkeit zu schaffen, die ihre eigenen Prämissen bestätigt, im Sinne einer zirkulären self-fulfilling prophecy. „Hexerei“ (als Befund, als verbaler performativer Akt von Wahrsagern, Féticheuren, Marabouts u. a.) ist eine nachträgliche Interpretation eines Übels, „Semiologie“, wie Augé sagt. Diese deutenden Aussagen (als eigentliches Medium, in dem „Hexerei“ soziale, d. h. kommunikative Realität besitzt) können ihr Gewicht aber nur aus der Tatsache beziehen, dass für viele AfrikanerInnen (oder für die „heidnische Logik“) die Welt an sich primär durch ihre Uneindeutigkeit, ihre Interpretationsbedürftigkeit charakterisiert ist. In gewisser Hinsicht ist die „heidnische Logik“ konstruktivistisch: Das Wirkliche ist nie gegeben, evident, sondern muss immer erschlossen, gelesen, rekonstruiert werden, und zwar im Umweg über das Abwesende, „Surreale“, Geheime, Unsichtbare. Dieses Andere ist aber nicht ein Transzendentes, Metaphysisches im abendländischen Sinne, sondern primär sozial bestimmt: So wie der andere als Patron, grand-frère oder allgemein Mächtiger/Reicher über mein Wohlergehen entscheidet, so ist es auch die Interpretationsfigur des „anderen“ in Form des Hexers, der für mein Unglück, mein Misslingen, meine Krankheit verantwortlich ist. Es handelt sich also um eine eher heteronome als autonome Auffassung der Persönlichkeit; entsprechend arbeiten die Heilerinnen gewissermassen eher mit einem systemischen bzw. gruppenpsychologischen (synchrone Analyse der Relationen und Kommunikationen) als individualpsychologischen (diachrone Analyse des Innerpsychischen) Ansatz. In diesen Zusammenhang gehört auch das „additive“ (im Gegensatz zum synthetisierenden) Denken: Die afrikanische Religion ist auch ohne die Versatzstücke von Christentum und Islam, „per se“, synkretistisch (und in diesem Sinne nie ethnisch-kulturell „rein“), sie rechnet immer mit dem „anderen“ (dem anderen Menschen, Geist, Gott, der anderen Wahrheit) und fügt ihn der eigenen Liste hinzu. In diesem Sinne ist vielleicht auch die Unterscheidung wahr/unwahr oder wirklich/unwirklich ungeeignet, sich dem Weltbild der afrikanischen Heilerinnen zu nähern. („Kein Antagonismus von Glauben und Wissen“, nach Augé.) „Wer heilt, hat Recht“, sagen sie in einer pragmatischen Wirklichkeits- und Wahrheitsauffassung.
Expeditionen mit Zauberern
Eine erste, persönliche Annäherung
Die Geisterpriesterin
September 1994, Abengourou.
An der Fassade des Umweltministeriums prangten zwei unübersehbar schöne Malereien. Das eine zeigte den Agni-König Nanan Bonzou II. in feierlichem Gewand, unter einem immensen Sonnenschirm, von einem Diener getragen, mit seinem Hofstaat und den goldenen Reliquien seiner Macht. Das andere Mauergemälde stellte eine tanzende Zauberin mit ihren Gehilfinnen dar, an einem Fluss, an dem soeben ein Schaf geopfert wird. Diese Frau auf dem Bild mit dem weißen Rock, dem roten Hut und dem kaolingepuderten Gesicht kam mir bekannt vor. Ich hätte in diesem Moment, als ich mir überlegte, ob ich das verschlafene Gebäude betreten sollte, nicht zu hoffen gewagt, dass ich sie persönlich kennen lernen sollte und dass mir dann auch wieder in den Sinn kommen sollte, woher ich ihr Gesicht kannte.
Eine Stunde später saßen wir im staubigen Büro des Regionalen Delegierten des Ministeriums, Monsieur Gbogou Gaba Mathurin, und waren in ein faszinierendes Gespräch vertieft. Diese Frau an der Hausmauer, erklärte er uns, sei Ahissia, die berühmte Fetischpriesterin und Meisterin der Schule für angehende Priesterinnen in Tengouélan. Etwa 250 Heilerinnen seien dort im Laufe der Jahre schon ausgebildet worden, die heute in der ganzen Elfenbeinküste verstreut praktizierten. Die meisten wurden in die Geheimnisse der afrikanischen Tradition von Akoua Mandodja eingeweiht, der Vorgängerin von Ahissia, die 1991 verstarb. Damals, im Oktober, kamen alle ihre ehemaligen Schülerinnen zu ihrem Begräbnis und tanzten eine Woche lang.
„Ahissia