Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
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Es welkte, mich durchschauend.«
Es war ihm, als ob alle Mütter der Erde ihn durchschauten, alle glücklichen ihn verachteten und alle unglücklichen ihn haßten als auch zur Rotte Korah gehörig. Da nun aber in Wirklichkeit nichts an ihm zu durchschauen war als das lauterste und reinste Wasser eines ehrlichen Wollens, wie er jetzt war, so erschien ihm dies Leben wie eine abscheuliche, tückische Hintergehung, wie eine niederträchtige und tödliche Narretei und Vexation, und er brauchte alle Mühen seiner ringenden Vernunft, um diese Vorstellung zu unterdrücken und der guten Meinung der Welt ihr Recht zu geben.
Als das enge Gemach sich mit dem Morgengrauen ein wenig erhellte, sah er den alten bekannten Hausrat, der einst die bequemeren Räume erfüllt, unordentlich und ängstlich zusammengehäuft; er wagte nicht, einen Schrank zu öffnen, und tat endlich nur einen altmodischen Koffer auf, der da zunächst stand. Er enthielt die alten Trachten von den Vorfahrinnen seiner Mutter, wie sie die Frauen gern aufzubewahren pflegen. Großblumige oder gestreifte seidene Röcke und Jäckchen, rote Schuhe mit hohen Absätzen, silbergewirkte Bänder, Häubchen, mächtige weiße Halstücher mit reichen Stickereien, Fächer, bemalt mit Schäferspielen, Fischern und Vogelstellern, und eine Menge zerquetschter künstlicher Blumen, alles das lag vergilbt und zerknittert durcheinander und war doch mit einer gewissen unverwüstlichen Frische anzufühlen, da die weibliche Schonung und Sparsamkeit in der Aufregung diese Festkleider und Putzsachen wohl erhalten und so alt werden ließ. In früheren Jahren, da sie noch eine jüngere Witwe war, hatte sich die Mutter alle Jahr einmal das bescheidene Vergnügen gemacht, an fröhlichen Festtagen die Tracht ihrer Großmutter anzulegen und sich darin etwa zu einem kleinen Abendschmaus zu setzen, und der kleine Heinrich hatte sie alsdann höchlich bewundert und nicht genugsam betrachten können.
Er drückte den Deckel wieder zu und ging durch die Stadt, um hier und da altbefreundete Leute zu begrüßen; man sah ihn groß an, erwies ihm aber Ehre, und es hieß schon überall, er habe ein großes Glück in der Fremde gemacht. Dann begab er sich aufs Land, um seine Vettern und Basen zu sehen, die zerstreut waren. Alle hatten die Stuben voll Kinder, die einen waren wohlhabend, die anderen schienen bedrängt und klagten sehr; doch alle waren gleichmäßig beschäftigt und belastet mit ihren Zuständen und schienen sich selbst nicht viel umeinander zu kümmern. Die Frauen waren schon verblüht, rasch und gesalzen in ihrem Tun und Sprechen und die Männer abwechselnd gleichmütig und einsilbig oder jähzornig. Sie schienen Heinrich zu beneiden, daß er nun alles noch vor sich habe, was sie schon durchgelebt zum Teil, und das einzige, worin sie ein herzliches Einverständnis mit ihn fanden, war die Klage um die Verstorbenen.
Heinrich trieb sich eine Zeitlang bei ihnen umher und gab sich meistens mit ihren Kinder ab, da ihm dieses unschuldige Zerstreuung war, welche auf Augenblicke wenigstens seinen harten Zustand in ein linderes Weh verwandelte.
Eines Abends streifte er in der Gegend umher und kam an den breiten Fluß. Ein großer siebzigjähriger Mann, den er noch nie gesehen, in einfacher, aber sauberer Kleidung, beschäftigte sich am Ufer mit Fischerzeug und sang ein sonderbares Lied dazu vom Recht und vom Glück, von dem man nicht wußte, wie es in die Gegend gekommen. Er sang mit frischer Stimme, indem er seine glänzenden Netze zusammenraffte:
Recht im Glücke! goldnes Los,
Land und Leute machst du groß!
Glück im Rechte! fröhlich Blut,
Wer dich hat, der treibt es gut!
Recht im Unglück, herrlich Schaun,
Wie das Meer im Wettergraun!
Göttlich grollt’s am Klippenrand,
Perlen wirft es auf den Sand!
Einen Seemann, grau von Jahren,
Sah ich auf den Wassern fahren,
War wie ein Medusenschild
Der versteinten Unruh Bild.
Und er sang »Vieltausendmal
Schoß ich in das Wellental,
Fuhr ich auf zur Wogenhöh,
Ruht ich auf der stillen See!
Und die Woge war mein Knecht,
Denn mein Kleinod war das Recht.
Gestern noch mit ihm ich schlief,
Ach! nun liegt’s da unten tief!
In der dunklen Tiefe fern
Schimmert ein gefallner Stern,
Und schon dünkt mich’s tausend Jahr,
Daß das Recht einst meines war.
Wenn die See nun wieder tobt,
Niemand mehr den Meister lobt.
Hab ich Glück, verdien ich’s nicht,
Glück wie Unglück mich zerbricht.«
Heinrich stand vor ihm still und hörte zu. Der Alte sah ihn aufmerksam an und grüßte ihn. »Ihr scheint«, sagte er, »ein Lee zu sein, den Augen und der Nase nach zu urteilen?« – »Ja«, sagte Heinrich. »Soso«, erwiderte der Mann, »so seid Ihr vielleicht des Baumeisters Sohn aus der Stadt, der sich vor Jahren viel hier aufhielt? Habt Euch lange nicht sehen lassen!« – »Ich habe aber Euch doch nie gesehen mit Wissen!« versetzte Heinrich, und der Mann sagte »So geht es wohl! Ich meinerseits habe schon viel gesehen und sehe alles. Habe auch Eure Mutter recht wohl gekannt; was macht sie, ist sie gesund und munter?« – »Nein, sie ist tot!« antwortete Heinrich. »Soso!« der Alte, »tot! ja, die Zeit vergeht! Es ist mir, als sei es heute, und sind es doch gerade funfzig Jahr her, daß ich an dieser Stelle hier als ein zwanzigjähriger Bursche die Leute über das Wasser führte. Es kam eine Kutsche voll Stadtleute von Eurem Dorfe hergefahren, die lustig und guter Dinge waren und über den Fluß setzen wollten. Eure Mutter war als ein dreijähriges Kind dabei, und ich hob es aus der Kutsche und setzte es zu den blühenden und fröhlichen Eltern ins Schiff. – Das Kind hatte ein närrisches rosenrotes Kleidchen an und lächelte so holdselig und gut, daß ich so dachte Dies ist einmal ein sauberes und freundliches Kind, das wird es gewiß immer gut haben. In dem schwankenden Schiff fing es aber an zu weinen, die hübsche junge Mutter schloß es in die Arme und beruhigte es, indes die anderen hellauf ein Lied sangen im Überfahren und sich mit Wasser bespritzten. Dann sah ich sie wieder, als sie etwa sechszehn Jahr alt und ein sittsames liebliches Mädchendings war. Es fuhr wieder ein ganzer Haufen jungen Volkes hierüber, so daß ich wohl dreimal fahren mußte, und auf der Wiese drüben pflanzten sie sich auf und musizierten und tanzten. Eure Mutter beschied sich aber in ihrer Fröhlichkeit und tanzte nicht soviel, und als ein paar Gelbschnäbel ihr zu eifrig den Hof machten, floh sie in das angebundene Schifflein und fing fleißig an zu stricken. Alles das ist lange her!«
Der Himmel jener Jahre schien dem zuhörenden Heinrich vorüberzuziehen in der blauen wolkenreinen Höhe. Er vermochte aber den lachenden Himmel und das grüne Land nicht länger zu ertragen und wollte zur Stadt zurück, wo er sich in dem Sterbegemach der Mutter verbarg. Die Liebe und Sehnsucht zu Dortchen wachte aufs neue mit verdoppelter Macht auf, seine Augen drangen den Sonnenstrahlen nach, welche über die Dächer in die dunkle Wohnung streiften, und seine Blicke glaubten auf dem goldenen Wege, der zu einem schmalen Stückchen blauer Luft führte, die Geliebte und das verlorene Glück finden zu müssen.