Das österreichische Antlitz: Essays. Felix Salten

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Das österreichische Antlitz: Essays - Felix Salten

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bin sechzig Jahre alt und weiß, daß vieles für mich vorüber ist. Ich bin ein armer Teufel. Das weiß ich auch. Und ich habe nichts erreicht. Manche Leute werden finden, ich hätte keine Ursache, so zufrieden zu sein. Manche Leute werden finden, ich hätte meine Jahre besser anwenden, hätte es durch größeren Fleiß, durch höhere Strebsamkeit ungleich weiter bringen können. Und ich muß ihnen recht geben. Ich muß es um so mehr, als ich zu alledem noch weiß, daß es mir nicht an guten Talenten, an reichen Anlagen und Geschicklichkeiten gefehlt hat. Heute darf ich's ja sagen, wo es doch schon zu spät ist. Ich hätte etwas werden können in der Welt. Etwas Großes vielleicht. Sicherlich etwas viel größeres, als ich geworden bin. Aber ich muß sagen, daß ich bei alledem nicht unglücklich bin. Vielleicht wäre ich als armer Teufel in einer anderen Stadt sehr unzufrieden und sehr unglücklich gewesen. Das vermag ich nicht zu beurteilen, denn ich kenne die Verhältnisse anderswo nicht, und weiß nicht, ob ich mich anderswo wegen meiner Armut und wegen meiner niedrigen Stellung ausgeschlossen gefühlt hätte. Hier habe ich mich niemals ausgeschlossen gefühlt, sondern habe immer die Empfindung, mindestens aber die Illusion gehabt, an allem Luxus, an aller Schönheit und an aller Intimität der Stadt ohne weiteres teilnehmen zu dürfen. Vielleicht hätte ich anderswo nicht gerastet, um in die Höhe zu kommen. Das ist schwer zu sagen. Ich weiß nur, daß ich immer, wenn ich des Abends von meinen Spaziergängen heimwärts wanderte, von allen meinen Eindrücken ganz sorglos gemacht und in meinem Sehnen ganz wunderbar beschwichtigt war. Wenn mir manchmal der Trieb kam, etwas Besonderes zu leisten, etwas zu unternehmen, dann schien es mir immer, als sei ja schon längst alles unternommen und geleistet und erreicht, und es bliebe jetzt nichts mehr zu tun übrig, als das Vorhandene wie einen köstlichen Besitz zu verstehen und zu genießen. Das mag ein verhängnisvoller Irrtum sein, doch werde ich mich jetzt nicht mehr damit befassen, ihn richtigzustellen. Ich habe schließlich genug erlebt, habe Menschenkenntnis und Erfahrungen in Hülle und Fülle, ich habe mein sicheres Auskommen und meine Ruhe. Jetzt habe ich auch noch den Frühling und diese fröhlichen Tage voll Sonne und Blumenduft. Bald wird man auch im Freien sitzen können. Auf dem Graben sind ja schon die Kaffeehütteln hergerichtet. Alles übrige mag sein wie es ist. Was liegt denn dran?

       Inhaltsverzeichnis

      Ein kleines rotes Haus im Währinger Kottage, mit einem netten Turm, der sich stramm davor aufrichtet. Ich kenne es seit meiner Kindheit; und seit ich als Bub auf der Türkenschanze umherlief, die damals freilich noch hinter jenem Hause gleich anfing, kenne ich vom Sehen den fröhlich dreinblickenden, weißbärtigen Herrn, der an milden Frühlingsabenden aus der Pforte unter dem Turm herauskam und über die Wiesen zum Heinrichshügel spazierte; immer munter, und immer von schönen, exotischen Frauen gesprächig umgeben.

      Der Heinrichshügel, dieser bescheiden erhöhte Abendsitz inmitten wogender Kornfelder, ist lange verschwunden. Die Felder und Wiesen sind ja alle verbaut, und die ganze Türkenschanze existiert nicht mehr. Es sind, wie gesagt, über zwanzig Jahre her. Aber der weißbärtige alte Herr blickt immer noch fröhlich drein, ist immer noch munter, und immer noch von schönen exotischen Frauen gesprächig umgeben. Und sein kleines, rotes Kottagehaus, mit dem netten Turm, der sich stramm davor aufrichtet, ist inzwischen der sonderbarste Ort in Wien geworden. Jedenfalls etwas einziges in seiner Art; nicht nur bei uns, sondern überall. Wenigstens müssen die Leute allerwegs dieser Meinung sein, denn aus sämtlichen Weltgegenden kommen sie hierher. Wie man sagt: ein Brennpunkt. Wenn man kurz und nüchtern mitteilt, was in diesem Hause geschieht, dann hört es sich wie gar nichts an: Hier werden Klavierstunden gegeben. Ein Unternehmen, das bekanntlich nur zu oft besteht, das fast immer mit allerlei entsetzlichem Geräusch verbunden ist und nicht gerade als eine Seltenheit angestaunt wird. Hier aber sind wir am wundertätigen Wallfahrtsorte aller Klaviermusikanten, hier ist das Rom und der Vatikan aller Pianogläubigen, hier werden die höchsten Weihen empfangen, denn hier wohnt und lehrt, hier segnet, und flucht zuweilen auch, der unfehlbare, alleinseligmachende Klavierpapst.

      Es ist etwas mehr als ein Vierteljahrhundert, seit Theodor Leschetitzky als ein schon längst berühmter Mann in Wien sich ansiedelte. Man kann nicht sagen, daß man ihn hier übertrieben gefeiert habe, daß die Reklametrommel für ihn gewirbelt worden sei; und während sein Ruhm aus den entferntesten Landen Schüler wie Verehrer herbeilockt, kennt man hier seine merkwürdige, in ihrer Art machtvolle und seltene Persönlichkeit in weiteren Kreisen verhältnismäßig nur wenig. Die Wiener, die seit fünfundzwanzig Jahren an ihm vorübergehen, wissen eben nach so langer Zeit, das ist der Leschetitzky. Viel mehr wissen sie aber nicht, denn es ist bei uns immer so, daß die Leute erst »nachträglich« alles erfahren. So kommt es, daß man jetzt nicht einmal sagen kann, Leschetitzky habe sich in Wien eine große Stellung gemacht. In Wahrheit muß es heißen, Leschetitzky nimmt in der Welt eine große Stellung ein und lebt in Wien. Er könnte aber ebensogut in Graz, in Magdeburg oder in Düsseldorf leben. Weil es nämlich nicht die Wiener gewesen sind, die ihn verkündet haben, sondern die Fremden, die Engländer, die Amerikaner, die Schweden, Dänen, Franzosen und Russen.

      Hier werde ich natürlich nicht von seiner Methode sprechen. Erstens vermöchte ich das gar nicht, zweitens interessiert mich diese Methode nur sehr wenig, und endlich könnte eine theoretische Erörterung darüber nur einen schwachen Begriff von Leschetitzkys Individualität geben. Diese allein aber fesselt mich, diese eigentümliche Gewalt, die von ihm ausgeht, daß er auf seine Schüler nicht bloß pädagogischen Einfluß übt, sondern sich vollständig ihres Menschentums bemächtigt. Die Persönlichkeit eines Mannes, die es bewirkt, daß ihm alle bedingungslos ergeben sind, daß sie ihn über gelegentliche Schroffheit und manche Tyrannei hinweg unbeirrt lieben, daß große Künstler vor ihm befangen werden und für sein kärglichstes Lob den Beifall von Tausenden freudig dahingehen. Da ist es denn am besten, ihn einmal mitten unter seinen Schülern zu sehen, wenn alle in dem kleinen roten Kottagehäuschen beisammen sind und er ihrem Ehrgeiz, ihrem Können und ihrem Talent einen Produktionsabend gönnt.

      Von diesen Abenden ist immer wie von einem Feiertag die Rede; und es geht auch sehr feierlich zu, wie bei einem richtigen Konzert. Nur daß es hier angenehmer und freier ist, die Stimmung einheitlicher und viel mehr erhöht als in einem öffentlichen Musiksaal. Das kommt daher, weil hier eine fühlbare Zusammengehörigkeit alle verbindet. Künstler, die unter sich sind und froh darüber, daß die Profanen draußen bleiben müssen. Nur selten geschieht es, daß hier ein Saulus unter die Propheten gerät, ein Pontius ins Credo sich verirrt.

      In einem langen vierfenstrigen Saale stehen an der oberen Schmalseite zwei Klaviere nebeneinander, derart, daß die Spieler mit dem Rücken zur Wand sitzen, das Gesicht den Hörern zugewendet, von denen sie durch die ganze Länge des Instruments getrennt sind. An derselben Schmalseite des Musiksalons führt eine Tür in das Speisezimmer. Hier sitzen gewöhnlich die Amerikaner und sehen nur gerade die Vortragenden. Spielt ein gewöhnlicher Mensch, dann wird im Saal länger applaudiert und aus dem Speisezimmer hört man bald nichts mehr. Spielt aber ein Amerikaner oder eine Amerikanerin, dann wirds hier draußen früher stille, während aus dem Speisezimmer der Beifall der unsichtbaren Landsleute noch weiterklingt.

      Man ist hier überhaupt in einer höchst internationalen Gesellschaft. In Wien an und für sich schon eine Seltenheit. Hier gibt es Russinnen in prunkvollen Gewändern und mit barbarisch schönen Edelsteinen; dann die dunkeläugigen, ein wenig zur karikaturmäßigen Genialität neigenden Polen; dann die blonden Schwedinnen, die so stolze und nachdenklich blaue Augen haben, so wunderbar goldblonde Haare, die so einfach angezogen und so schön und biegsam von Wuchs sind; dann ein ganzes Rudel Amerikanerinnen von jener unnachahmlichen Barrison-Grazie, von jenem unerreichbaren Schick, der sie sogleich von allen anderen unterscheidet, und von jener gesammelten Sachlichkeit in Miene, Geberden und Worten, die mit ein Reiz ihrer Schönheit ist; Engländerinnen, die manchmal nicht schön sind, aber fast immer märchenhaft viele Haare haben, märchenhaft frisiert, und von einer märchenhaft rostroten Farbe. Dann die Amerikaner und die Engländer mit ihren Langschädeln, ihren langen Hasenzähnen, ihren langen Armen und Beinen; kleine stämmige

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