Der Spürsinn des kleinen Doktors. Georges Simenon
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Читать онлайн книгу Der Spürsinn des kleinen Doktors - Georges Simenon страница 6
»Wollen Sie damit etwa andeuten, ich …«
»Natürlich nicht. Trotzdem … Hm …«
Das Telefon klingelte. Ein Gespräch aus Paris.
Es musste fünf Uhr nachmittags sein. Inzwischen hatten es sich alle bequem gemacht, und die Männer hatten, bis auf den Assessor und seinen Schreiber, die Jacke ausgezogen. Niemand dachte mehr daran, dass auf dem Küchentisch eine Leiche lag.
Ein Polizist hatte zu den Aperitifflaschen hingeschielt, denn er war sehr durstig, aber er hatte nicht gewagt, sich etwas einzuschenken, und der Bürgermeister von Esnandes hatte gesagt:
»Ich werde ein paar Flaschen Weißwein von zu Hause holen lassen …«
Der Gendarm hatte sich auf den Weg gemacht. Die Flaschen standen entkorkt auf dem Tisch im Wohnzimmer. Der schwitzende Schreiber hielt immer wieder im Schreiben inne, um einen Schluck zu trinken.
Der Kommissar, der lange mit Paris telefoniert und sich dabei Notizen gemacht hatte, erstattete dem Assessor Bericht.
»Wie ich es mir gedacht habe. Der Mann ist sofort identifiziert worden. Ich hätte sogar geschworen, dass er mir gar nicht so unbekannt ist. Es ist Jo, der Boxer.«
Den anderen sagte der Name nichts.
»Ein übles Subjekt, verkehrt vor allem in den Bars an der Place des Ternes. Ein halbes Dutzend Vorstrafen … Das letzte Mal ist er vor drei Monaten aus dem Gefängnis in Poissy entlassen worden.«
»Vor drei Monaten«, wiederholte der Arzt, als wollte er sich diese Zahl gut einprägen.
»Was nützt Ihnen das schon?«, schien der strenge Blick des Kommissars zu sagen.
Und der Kommissar fuhr fort:
»Sie haben ja gehört, dass ich gefragt habe, ob man Jo in der letzten Zeit in Paris gesehen hat. Da er keine Aufenthaltserlaubnis hatte, hätte er gar nicht dort sein dürfen. Dennoch ist er mehrmals gesehen worden, erst letzte Woche bei der Étoile …«
»Also hat er sich nicht hier versteckt«, sagte der kleine Doktor befriedigt.
»Ich habe nie behauptet, er hätte sich hier versteckt.«
»Aber Sie haben es gedacht!«
»Es ist doch ganz unwichtig, was …«
»Messieurs! Messieurs! Wir wollen uns doch nicht streiten«, fiel der Assessor ein. »Man könnte glauben, Kommissar und Arzt würden sich gleich die Köpfe einschlagen.«
»Wenn dieser Herr mich weiter provoziert …«
»Aber das tue ich doch gar nicht! Ich schwöre.«
»Fahren Sie fort, Kommissar … Also, Jo, der Boxer, war kürzlich in Paris. Er ist wahrscheinlich mit dem Zug hergekommen. Was wollte er hier?«
Und der unverbesserliche Doktor konnte nicht umhin zu sagen:
»Das ist eben die Frage. Bestimmt ist er nicht hergekommen, um Messerstiche einzustecken und hinter einer Hecke verbuddelt zu werden …«
»Nehmen wir an, er sei der Frau wegen gekommen«, riskierte der Assessor zu sagen, der an seiner Idee festhielt.
Nein! Das war nicht der Grund gewesen. Der kleine Doktor spürte das. Es war zugleich einfacher und komplizierter. Er würde dahinterkommen. Er würde vielleicht einige Zeit dafür brauchen, aber er war sicher, er würde dahinterkommen.
»Weshalb ist er das letzte Mal verurteilt worden?«, fragte er.
»Wenn ich nicht ständig unterbrochen worden wäre, hätte ich es längst gesagt … Der Wirt eines Nachtlokals in der Rue Fontaine ist ermordet worden.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Jahren. Raubmord … Mehrere Männer, man hat nie herausbekommen, wie viele genau, haben sich an dem Abend in dem Lokal einschließen lassen. Sie hatten es auf die Kasse abgesehen … Als bloß noch der Wirt im Lokal war, haben sie sich auf ihn gestürzt. Er hat sich gewehrt. Schüsse sind gefallen … Nur Jo, der Boxer, ist gefasst worden. Er ist lediglich als Mittäter verurteilt worden, denn die Fingerabdrücke, die man auf dem im Lokal zurückgelassenen Revolver gefunden hat, waren nicht von ihm.«
Da geschah etwas Unerwartetes. Der kleine Doktor zog seine Jacke wieder an. Er wirkte sehr zufrieden und freundlich. Man hätte glauben können, dass nie von einem Mord oder von einem Mörder die Rede gewesen sei, dass er nur gekommen sei, um reizenden Patienten oder Freunden einen Besuch abzustatten.
Er reichte allen die Hand und sagte mit entwaffnendem Lächeln:
»Nun, Messieurs, wenn Sie mich nicht mehr brauchen, werde ich mich wieder um meine Kranken kümmern.«
Aber er hielt mit seinem kleinen knatternden Auto nicht vor seinem Haus an, obwohl man von der Straße aus sah, dass im Wartezimmer lauter erschöpfte Patienten saßen.
III Ein vollkommen unnützer Messerstich
Bis Rochefort ging alles gut. Die Straße war solide, Vögel sangen in den Bäumen, und der kleine Doktor ertappte sich mehrmals dabei, wie er vor sich hin pfiff.
Er war mit sich zufrieden. Mehr als zufrieden. Hatte er nicht soeben ganz besondere Talente in sich entdeckt? Und diese Talente verhießen ihm obendrein bislang ungeahnte Freuden.
Ein Anruf … Vorher hatte sich niemand um die Maison-Basse und ihre Bewohner gekümmert. Er war ihnen mehrmals begegnet, ohne sich für sie zu interessieren. Nur einmal hatte er mit Drouin gesprochen, um ihm ohne rechte Überzeugung ein einfaches Medikament zu empfehlen, das er sich auch selbst hätte kaufen können … Und einmal hatte er mit der jungen Frau gesprochen.
Und trotzdem hatte er in wenigen Stunden alles entdeckt. Er war davon überzeugt. Er war sich dessen sicher. Die anderen, der Assessor, der Kommissar und erst recht der brave Bürgermeister, tappten im Dunkeln, und das musste so sein, sagte sich der Doktor. So war es wohl fast immer bei einem Kriminalfall.
Weil sie es falsch anfingen!
Aber er … Wie fing er es an? Er hätte es nicht genau sagen können, aber er spürte es. Er versetzte sich an die Stelle des … oder vielmehr …
Nun, es spielte keine Rolle. Entscheidend war, dass er ans Ziel kam, dass die Maison-Basse keine Geheimnisse mehr für ihn barg.
Es ging jetzt nur noch darum, Drouin zu finden, was nicht schwer sein würde. Rochefort ist nicht groß. Seit es keine Garnison mehr ist, ist es fast eine tote Stadt mit Straßen, in denen kein Verkehr pulst.
Er begann im Café de la Paix, weil er nichts außer Acht lassen wollte, aber wie erwartet saß Drouin weder auf der Terrasse noch drinnen.
»Café du Commerce … Café Joffre … Café de la Marine.«
Die Sonne stand schon tief am Himmel, aber die Hitze war noch unerträglich, und der kleine Doktor bekam das Biertrinken allmählich