Der Spürsinn des kleinen Doktors. Georges Simenon
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Читать онлайн книгу Der Spürsinn des kleinen Doktors - Georges Simenon страница 7
»Vorausgesetzt, dass er keinen Blödsinn macht«, murmelte er vor sich hin.
›Blödsinn machen‹ hieß, sich abzusetzen, in einen Zug, einen Bus zu steigen, weiter zu flüchten, was die sicherste Methode war, geschnappt zu werden.
Was mochte Drouin jetzt machen? Seit mittags bewegte er sich in einem begrenzten Raum mit hundert Straßen vielleicht, hundert Cafés, die kleinsten Bars mit eingeschlossen.
»Ach, ich hätte doch fast vergessen …«
Dollent schlug sich an die Stirn und stieg wieder in sein winziges Auto. Er hielt in einer Straße, wo an allen Häusern die Läden geschlossen waren und jedes durch eine große Nummer gekennzeichnet war.
Ohne Scheu ging er überall hinein, setzte sich, bestellte der Form halber einen Schnaps und erwehrte sich der Zudringlichkeiten der Damen.
»Ich suche einen Freund, der mir gesagt hat … Haben Sie ihn vielleicht heute Nachmittag gesehen? Er hat einen Bart.«
»Einen mit Bart? Nein. Übrigens, nachmittags kommt kaum jemand her. Eigentlich nur Stammgäste.«
»Ich bin ein Idiot«, dachte er, »ein Vollidiot. Wieso habe ich nicht eher daran gedacht?«
Nach den Cafés, den Bars, den Bordellen kamen die Friseure an die Reihe. Er musste sich beeilen, denn die Läden würden bald schließen.
»Sagen Sie … Ich suche einen Freund, mit dem ich mich am Bahnhof verabredet hatte. Ein großer junger Mann, graue Hose. Ich weiß, er wollte sich den Bart abnehmen lassen.«
»Ernest! Hattest du heute einen mit Bart?«
»Nein, Chef.«
Ein Friseur, zwei, fünf, zehn Friseure. Und kein Bart! Immerhin musste er nicht trinken, und das war ein Glück, denn ihm begann sich schon der Kopf zu drehen.
»Einen Bart? … Moment. Ja, um drei. Allerdings habe ich nicht auf die Farbe seiner Hose geachtet.«
»Das macht nichts. War er allein?«
»Ja … Kann aber auch sein, dass er mit einer Dame gekommen ist. Die wäre dann in den Damensalon gegangen. Auguste, hast du um drei eine Dame bedient, die …«
Nein! Na wennschon. War es nicht auch so schön? Und berauschend? Ganz allein war es ihm gelungen, Drouin aufzuspüren, und die Spur war noch heiß.
»Sie wissen nicht, wohin er dann gegangen ist?«
Nein, das wusste man nicht. Und eine Viertelstunde später, als die Sonne hinter den Häusern am Marktplatz unterging, war der kleine Doktor ganz entmutigt. Er überlegte, was er auf der Terrasse des Café de la Paix trinken sollte, wo er seine Runde begonnen hatte und wo er sie nun beendete. Studenten spielten Karten. Eine Frau saß allein vor einem Glas Bier und zwinkerte ihm zu.
»Was soll’s! Einen Pernod …«
Noch nie in seinem Leben hatte er so viel getrunken, aber er hatte auch noch nie so viel nachgedacht. Und jetzt drängte die Zeit. Es stand auf Messers Schneide. Eine Stunde verloren, und vielleicht …
Also! Welchen Fehler hatte er gemacht? Warum war er nicht weitergekommen, nachdem er Drouins Spur bei dem Friseur wiedergefunden hatte?
Etwas in seinen Berechnungen stimmte nicht. Es war nicht anders möglich.
»Beim zweiten Telefonat hat er mich gefragt, ob ich das Berufsgeheimnis wahren würde, falls eine verletzte Person zu mir käme … Also …«
Weiter kam er nicht. Er hatte seinen Pernod in der Hand, und sein Blick war so starr, dass die Frau, der er sich unwillkürlich zugewandt hatte, glaubte, nun sei alles klar.
»Also … Er muss nach Marsilly. An das Naheliegende denkt man meist nicht. Von hier nach Marsilly sind es fünfundvierzig Kilometer … Er kann weder den Zug noch den Bus nehmen.«
Ein Fahrrad. Das war es, woran er nicht gedacht hatte. Fünf Minuten später, nachdem er zur großen Verblüffung des Kellners vergessen hatte, seinen Pernod zu bezahlen, war er auf dem Kommissariat.
»Ich möchte Sie um eine Auskunft bitten. Ist heute Nachmittag in Rochefort ein Fahrrad gestohlen worden?«
Der Sekretär im Kommissariat war noch verblüffter als der Kellner im Café de la Paix.
»Ein Fahrrad gestohlen? Warum interessiert Sie das?«
»Bloß so … Nur so eine Idee …«
»Nein, Monsieur, es ist kein Fahrrad gestohlen worden.«
Drouin war also ängstlicher, als Dollent geglaubt hatte, denn nichts ist einfacher, als ein Fahrrad oder sogar ein Auto zu stehlen.
»Gibt es viele Fahrradgeschäfte in Rochefort?«
»Das weiß ich nicht, Monsieur. Ich interessiere mich nicht für Sport.«
Es gab acht Fahrradgeschäfte, aber er musste sie nicht alle abklappern. Schon im dritten konnte er sich wieder seiner Begeisterung hingeben. Der Kerl in Pantoffeln antwortete ihm, wenn auch ein wenig misstrauisch:
»Ich habe kein Fahrrad verkauft, aber ich habe zwei vermietet.«
»Ein Herren- und ein Damenrad?«
»Ja.«
»Um vier Uhr?«
»Nein, um sechs.«
Da war er selbst schon in Rochefort gewesen, und wenn der Zufall es gewollt hätte …
»Ein Mann in grauer Hose, nicht wahr?«
»Möglich.«
Jetzt musste er Drouin auf den Fersen bleiben, musste es sich zunutze machen, dass er unter Druck war. Der Ladenbesitzer in Pantoffeln schob ihn hinaus, aber Dollent ließ sich nicht abwimmeln.
»Pardon, noch eine Frage: Er hat doch gewiss Geld hinterlegen müssen?«
»Er hatte nicht genug dabei. Er hat mir seine Uhr dagelassen.«
Herrlich! Mehr, als er hatte hoffen können. Dem kleinen Doktor hüpfte das Herz vor Freude. Wenn nur dieser blöde Fahrradhändler nicht …
»Dürfte ich sie einmal sehen? Keine Sorge. Ich bin Doktor Dollent aus Marsilly … Hier ist mein Führerschein.«
Bei einem solchen Kerl halfen keine Mätzchen.
»Ich suche einen Freund, den ich in Rochefort treffen sollte. Er hat wohl die Fahrräder gemietet, um zu mir zu fahren.«
»Da hätte er ja mit dem Bus fahren können.«
»Daran wird er nicht gedacht haben … Wenn ich die Uhr sehen könnte, wüsste ich, ob …«
»Sind Sie nicht eher ein Freund der kleinen