Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри

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Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen &  Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - О. Генри

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Fürst nennt sie immer die Kleine.«

      »Die arme Kleine,« verbessert das Kind.

      »Die Namen passen freilich nicht für dich. Warum gaben sie dir nicht einen schönen altdeutschen Namen, einen Hohenstaufennamen, von denen stammst du ja ab, und dein Goldhaar ist eine Erinnerung daran. Es ist so lang her, aber nicht unmöglich. Mir erzählte ein Freund, in den Küstenstädten im Heiligen Land bei Akkon, wo die Kreuzfahrer waren, würden immer wieder Araberkinder mit blonden Haaren geboren. Das ist noch viel wunderbarer. Sie hätten dich Griseldis oder Gerhildis oder Windemut oder Gisela nennen müssen. Was hast du denn, Seelchen?«

      »Es ist mir durchs Herz gefahren, wie du Gisela gesagt hast.«

      »Wunderliches, du bist ganz blaß.«

      »Du sollst auch den Namen nie wieder sagen,« befiehlt sie. Frau von Hardenstein steht von ihrem behaglichen grauen Knäuel auf und wirft dem Thorsteiner einen warnenden Blick zu.

      »Seelchen, setze dich so recht gemütlich hin, und dann hältst du ein klein wenig still, wenn ich sage: jetzt. Und du brauchst gar nicht zu schweigen, erzähle mir etwas. Von deinem Lindenstamm. Was ist noch Schönes dort?«

      Das Seelchen ist sehr bereit und beginnt mit ihrem hohen feierlichen Stimmchen zu erzählen: »Auf dem Lindenstamm, den man so nennt, weil früher eine Bastei dort war, lang ehe die Linde stand.«

      Harro lachte: »Was für ein schöner Satz.« »Oh, den Anfang macht immer der Herr Kantor, denn anfangen kann iÿch die Aufsätze nicht. Und ich soll dir doch einen Aufsatz erzählen, mein Brief war doch auch ein Aufsatz.«

      »Also der Anfang wäre gemacht, und nun kann's weitergehen.« Das Seelchen faßte nach ihrem Knie, das sie ein wenig hochzog, neigte ihr Köpfchen leicht nach der Seite und sah zu dem Freunde hinauf. Harro wollte schon »jetzt« rufen, aber er bezwang sich – nur einmal machen lassen, bis sie sich ganz vergessen hatte. Seine Künstleraugen leuchteten.

      »Auf dem Lindenstamm is auch ein dicker Turm, weißt du von dem etwas, Seelchen?«

      Sie beginnt zögernd. »Er ist rot, der Turm. Es sind alle Gastbetten darin auf langen Holzfächern. Wenn einmal ein König oder der kommandierende General kommt, so bekommt er das schönste Bett mit hellblauer Seide. Die Fenster sind vergittert, einen grünen, dicken Busch hat der Turm auf seinem Hut stecken. Im Sommer ist der grün mit kleinen Beeren. Alle Vögel essen daran, da freut sich der Turm mit seinem einen Auge. Wenn Fräulein Berger Betten nachsieht, hat er ein kleines, rotes Licht im Kopfe, dann ist er erst lustig anzusehen. Oben im Turm ist eine Stube, heißt die Hexenstube, und man kann die Türe nie zumachen, immer geht sie bei Nacht wieder auf. Von wegen der Hexe. Die ist aber schon lange tot, und es ist alles ein alter Aberglaube.«

      »Dieser Satz wird dem Herrn Kantor ausnehmend gefallen haben,« wirft Harro ein.

      »Ist auch vom Herrn Kantor!« sagt das Seelchen stolz, »und da gehört er herein. Man kann keine fremde Kammerfrau in der Stube schlafen lassen, auch wenn noch so viel Gäste im Schloß sind und man sich nicht zu helfen weiß. Weil die Tür immer wieder aufgeht, mitten in der Nacht. Eine Treppe hat der Turm auch, die geht im Kreise herum, wie alle Treppen in den Türmen. Man nennt sie Wendeltreppe.«

      »Bravo, Herr Kantor!«

      »Die Treppe geht bis mitten in die Erde hinunter. Soll ich weiter erzählen?«

      Das Seelchen blickt etwas besorgt nach Frau von Hardenstein; die hat aber ihren Knäuel weggelegt und sich in ein Buch vertieft, oder tut wenigstens so. Harro nickt ermutigend.

      »Der Turm ist tausend Jahre alt. Mitten in der Erde ist der Turm nicht so freundlich wie oben, wo der Busch sitzt. Vielleicht hat er's vergessen, was unten ist, sonst könnte er nicht mit einem Auge lachen und mit dem Busch nicken, wenn alle Spatzen zum Besuch kommen. Vielleicht weiß er auch nicht, was vor tausend Jahren war, er muß ja Betten hüten. Es ging einmal jemand die Treppe hinunter.«

      »Seelchen, ich fleh dich an, bleib so sitzen, nur einen Augenblick. Herrgott, ist das eine Freud! Kannst du so still sitzen? Und erzähl weiter, war's ein Ritter, ein Kellermeister?«

      Den wundervoll geistig belebten Ausdruck möchte er auf dem Gesichtchen festhalten. Sein Stift fliegt.

      »Weiter, Seelchen!« »Es war kein Ritter – es war sie!« »Eine Frau?« »Ich weiß nicht. Sie hielt ihre Hand vor sich, daß sie nicht an die grauen Steine stieß. Ihre Hand war weiß und ihr Gesicht. Das Haar, wie meine Haare sind, nur viel goldener, fiel ihr bis zu den Knien. Hinter ihr ging jemand, er darf sie aber nicht anrühren, er hat auch Angst davor. Unten ist eine dicke Säule und ein Gang. Es brennt ein kleines Licht, ein gelbes und ein rotes Licht. Die Steine sind schwarz und rauh, und sie steht an der Säule. Dann ist ihr Kleid weiß, vorher war es schwarz. Das ist vom Turm.«

      »Deine Geschichte ist ein bißchen schauerlich, Seelchen, und du bist ganz blaß geworden.« Aber das Seelchen schweigt, und Harro malt mit inbrünstiger Hingabe.

      Und doch möchte er weiter das feine Stimmchen hören. Wenn sie schweigt, sieht sie so leidversenkt aus. Und das kann den Vater nicht freuen, wenn zu viel davon auf das Bild kommt. »Ist das nun alles von ›ihr‹«, fragt er. – »O nein!«

      Das Seelchen ist ihm wieder geöffnet wie im Winterwald.

      Sie beginnt leise. »Es war einmal Nacht, und es war jemand gestorben. Und die Linde hat gelbe Büschelchen. Weil sie nun tot ist, erzählt niemand mehr: Rapunzel, laß dein ellenlanges Haar herunter, – weh', weh' Windchen, nimm Kürdchen sein Hütchen – Brennesselbusch so kleine, was stehst du da alleine? Niemand kämmt mit lieben Händen mein Haar, daß es kein bißchen reißt, und erzählt dazu und kann spinnen, daß die Spindel tanzt am feinen Fädchen. Die Stube ist leer. Es steht ein Kreuz auf dem Kirchhof, daran wächst ein Kräutlein, heißt Herzeleid und eines heißt Nimmerfroh, und singt das Vögelein Niemalswieder. Niemals wieder.«

      Hinter dem vorgehaltenen Buche laufen über das stolze Gesicht langsame Tränen herunter. Die Schultern zucken unter der grauseidenen Bluse.

      »Es gibt nur noch Leute, die über einen seufzen, und Leute, die quälen. Und nie ist man allein, nie, nie. Immer muß man es jemand recht machen, auf französisch und englisch recht machen. Und es kommt gewiß nie besser. Aber man kann durchs Fenster klettern, weil ein Riegel ab ist, das weiß Babette nicht: und da kommt man auf den Lindenstamm. Und der Mond scheint auf die Linde – da weint die auch. Man kann auch einschlafen auf der Rampe, weil es so süß duftet, und im Schlaf herunterfallen. Der liebe Gott würde nicht einmal so sehr zanken, er weiß ja ganz gut, wie es ist. Es ist so schön warm, und die Linde glänzt mit ihren Tränen, daß einem die Augen zufallen, und streichelt einen mit ihrem Duft. Da rauscht es. Ein feines Klingen, und da ist sie. Das Mondlicht ist auf ihrem Kleid, und das ist von Silber. An ihrem Halse hat sie einen Schmuck von hängenden Tropfen. Von ihrem Haar hängt ein weißer Nebel. Und sie sieht einen an. Streng ist sie, sie weiß alles. Sie weiß Weh, Allein, – Niemalswieder. Man ist am frohesten, wenn man am traurigsten ist. Sie ist da, bis man einschläft.«

      Seelchen schweigt. Es ist still, man hört nur Harros eilige Striche. Frau von Hardenstein ist hinausgegangen.

      Dann legt er seinen Pinsel hinweg. »So, für heute kann ich's nur noch verderben. Geh schnell, Seelchen, und sieh nach Frau von Hardenstein, ich möchte sie noch sehen, ehe ich gehe.«

      Das Seelchen geht hinein, kommt aber gleich wieder.

      »Sie ist nicht allein, ich mag jetzt nicht.«

      Harro

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