Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

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Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter  Benjamin

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es nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch, wenn er mit diesem ungestümen Element zu kämpfen hatte, und es erfrischte ihn ordentlich, wenn er hungrig oder niedergeschlagen war. Auch harter Frost oder Schneewetter war für Toby ein Ereignis und schien ihm auf diese oder jene Art gut zu tun, obgleich es schwierig wäre zu sagen, auf welche Art! So waren die Wind-, Frost-und Schneetage und vielleicht ein tüchtiges Hagelwetter in Toby Vecks Kalender rot angestrichen.

      Sein ärgster Feind war Regenwetter: die kalte, schmutzige, klebrige Nässe, die ihn gleichsam in einen feuchten Mantel einhüllte; die einzige Art von Mantel, die Toby besaß oder deren Nichtdasein zu seiner Behaglichkeit beigetragen haben würde. Nasse Tage, wenn der Regen langsam, dicht, hartnäckig niederfiel; wenn die Straßen voll Nebel waren, daß er zu ersticken vermeinte, Regenschirme hin-und herliefen und sich um und um drehten wie Drehwürfel, indem sie auf den überfüllten Trottoirs aneinanderprallten und einen kleinen Strudel von unangenehmen Tropfen um sich sprühten; wenn die Rinnsteine plätscherten und Dachrinnen gefüllt und voller Lärm waren; wenn die Nässe von den vorspringenden Steinen der Kirche dripp, dripp, dripp auf Toby fiel und sofort das Bündel Stroh, auf dem er stand, zu bloßem Moder machte; das waren die Tage, die ihn quälten. Dann sah er aus seinem Versteck in einer Ecke der Kirchenmauer – ein so kärglicher Zufluchtsort, der im Sommer keinen größeren Schatten hat, als ein mitteldicker Spazierstock auf dem sonnigen Pflaster wirft – mit sehnsüchtigem, bekümmertem und langem Gesicht. Kam er aber eine Minute später daraus hervor, um sich durch Bewegung zu wärmen, und trabte er einige dutzendmal auf und nieder, so heiterte sich sein Antlitz auf, und er kehrte helleren Blickes in seine Nische zurück.

      Man nannte ihn Trotty oder den Traber wegen seines Ganges, der schnell sein sollte, wenn er es gleich nicht war. Er hätte vielleicht schneller gehen können, sogar wahrscheinlich; aber hätte man Toby seinen Trab genommen, er wäre bettlägerig geworden und gestorben. Sein Trab bespritzte ihn mit Schmutz bei nassem Wetter; er kostete ihn unsäglich viel Plage; er hätte unendlich viel bequemer gehen können; doch dies war gerade ein Grund, weshalb er so hartnäckig daran festhielt. Ein schwacher, kleiner, dünner, alter Mann seiner Natur nach, war Toby ein wahrer Herkules in seinen guten Absichten. Er verdiente gern sein Geld. Er war glücklich zu glauben, – Toby war sehr arm und konnte nicht leicht eine seiner Freuden entbehren – daß er sein Brot ehrlich verdiene. Wenn er für l Schilling oder 18 Pence eine Botschaft zu besorgen oder ein kleines Paket zu tragen hatte, dann stieg sein innerer hoher Mut noch viel höher. Wenn er dahertrabte, dann rief er schnellen Postboten, die vor ihm hergingen, zu, sie möchten aus dem Wege gehen; denn er glaubte aufrichtig, daß er im natürlichen Gange der Dinge sie selbstverständlich überholen und über den Haufen laufen müsse; und er hegte die völlige, wiewohl nicht oft auf die Probe gestellte Überzeugung, daß er alles zu tragen vermöge, was irgend jemand zu heben imstande sei.

      So trabte Toby sogar, wenn er aus seinem Winkel hervorkam, um sich an einem nassen Tage zu wärmen. Mit seinen leckenden Schuhen eine krumme Linie von weichen Fußtapfen in dem Schmutz zurücklassend; die kalten Hände blasend und reibend, die vor der eindringenden Kälte nur spärlich durch abgetragene graue Wollhandschuhe, mit einer besondern Abteilung bloß für den Daumen und einem gemeinschaftlichen Raume für die übrigen Finger, geschützt waren; mit gebogenen Knien und den Stock unter dem Arm trabte Toby immer fort. Auch wenn er sich auf die Straße stellte, um nach dem Glockenstuhle zu sehen, wenn die Glocken läuteten, trabte Toby.

      Diese letzte Exkursion machte er mehrmals des Tages, denn die Glocken waren seine Leidensgefährten; und wenn er ihre Stimme hörte, dann interessierte es ihn, nach ihrer Wohnung zu sehen und zu überlegen, wie sie in Bewegung gesetzt würden und was für Klöppel daran schlügen. Vielleicht war er um so neugieriger in betreff dieser Glocken, weil sie Vergleichungspunkte mit ihm darboten. Sie hingen dort bei jedem Wetter, dem Wind und Wetter ausgesetzt; sie sahen nur das Äußere dieser Häuser; sie kamen nie den glänzenden Feuern zu nahe, welche die Fenster beschienen oder aus den Schornsteinen hervorschlugen; sie hatten keinen Teil an all den guten Dingen, welche durch die Türen von der Straße oder durch die Gitter der Küchenfenster verschwenderischen Köchinnen gereicht wurden. An vielen Fenstern zeigten sich Gesichter und verschwanden wieder: manchmal hübsche, junge, liebliche Gesichter, manchmal das Gegenteil; Toby aber (obwohl er oft über diese Dinge nachdachte, wenn er müßig auf der Straße stand) wußte ebensowenig wie die Glocken, woher sie kamen oder wohin sie gingen, oder ob sie, wenn sie die Lippen bewegten, im ganzen Jahre ein freundliches Wort über ihn sagten.

      Toby war kein Kasuist – wenigstens soviel er wußte – und ich behaupte nicht, daß, als er zuerst Zuneigung zu den Glocken faßte und aus einer zuerst nur flüchtigen Bekanntschaft nach und nach eine zärtlichere und intimere Zuneigung wurde, er sich von allem genau Rechenschaft ablegte, oder seine Gedanken buchstäblich Revue passieren ließ. Das aber will ich sagen und sag’ ich, daß so, wie Tobys leibliche Funktionen, z. B. seine Verdauungswerkzeuge, durch ihre eigene Klugheit und mittels einer großen Anzahl von Operationen, die ihm alle durchaus unbekannt waren, und deren Kenntnis ihn in sehr großes Erstaunen gesetzt haben würde, zu einem gewissen Ziele kamen; so setzten seine geistigen Fähigkeiten ohne sein Wissen oder Zutun alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung, als sie an seiner Neigung zu den Glocken arbeiteten.

      Ja, wenn ich gesagt hätte: an seiner Liebe, so würde ich das Wort nicht widerrufen, wiewohl es seine sehr komplizierten Empfindungen nicht ausgedrückt haben würde. Er war doch eben nur ein schlichter Mann, aber er bekleidete sie doch mit einem seltsamen feierlichen Charakter. Die Glocken waren so geheimnisvoll, man hörte sie oft und sah sie nie; sie waren so hoch oben, so weit entfernt, so voll von tiefer kräftiger Melodie, daß er sie mit einer Art Scheu anblickte; und bisweilen, wenn er zu den dunklen Bogenfenstern im Turme hinauf sah, erwartete er halb und halb, daß ihm etwas, das keine Glocke und doch dasjenige wäre, was er so oft im Glockengeläut klingen hörte, ihm ein Zeichen geben würde. Dessenungeachtet sprach Toby mit Entrüstung von einem raunenden Gerücht, daß es bei den Glocken spuke, und dies deutete die Möglichkeit an, daß sie mit irgend etwas Bösem in Verbindung ständen. Kurz, sie klangen ihm sehr oft in die Ohren und gingen ihm sehr oft durch die Gedanken, aber immer in bestem Sinne, und sehr oft bekam er sogar einen steifen Hals, wenn er mit offenem Munde nach dem Turme gaffte, in dem sie hingen, daß er nachher einmal oder zweimal mehr Trab laufen mußte, um seinen Hals wieder in Ordnung zu bringen.

      Gerade dies tat er an einem kalten Tage, als der letzte schläfrige Klang der zwölften Stunde wie eine melodische Riesenbiene, keineswegs aber wie eine geschäftige Biene, durch den Turm summte.

      »Ah, Mittagszeit!« sagte Toby und trabte vor der Kirche auf und ab. »Ah!«

      Tobys Nase war sehr rot und seine Augenlider waren sehr rot, und er zwinkerte sehr viel und zog die Schultern sehr hoch an die Ohren, und seine Beine waren sehr kalt; kurz, er stand offenbar auf der Gefrierseite der Kälte.

      »Ah, Mittagszeit!« wiederholte Toby, indem er seinen rechten Handschuh wie einen kleinen Boxerhandschuh brauchte und seine Brust dafür züchtigte, daß sie kalt war. »Ah–h–h–h!«

      Darauf trabte er ein oder zwei Minuten schweigend auf und ab.

      »Da ist nichts«, begann Toby von neuem – doch nun hielt er auf einmal inne und befühlte mit einem Gesicht, das großes Interesse verriet, und mit einiger Unruhe sorgfältig seine Nase ihrer ganzen Länge nach. Er war bald damit fertig, denn es war keine große Sache von einer Nase.

      »Ich dachte, sie wäre fort«, sagt Toby und trabte weiter, »‘s ist aber alles in Ordnung. Ich könnte ihr freilich keinen Vorwurf machen, wenn sie fort wäre; sie hat harten Dienst bei diesem kalten Wetter und sehr wenig zu erwarten: denn ich schnupfe nicht. Sie hat ihr gut Teil Pflege, das arme Geschöpf, im besten Falle; denn wenn sie einmal etwas Gutes riecht (was nicht so oft passiert), so geschieht dies gewöhnlich aus fremder Leut’ Topf auf dem Wege vom Herd.«

      Dieser Gedanke erinnerte ihn an den anderen, den er unvollendet gelassen hatte.

      »Nichts

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