Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin
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»Und schau, wie kalt er es auf der Treppe werden läßt!« sagte eine andere Stimme.
Es war die Stimme des besagten Richard, der unbemerkt herangekommen war und plötzlich vor Vater und Tochter stand, mit einem Gesicht auf sie blickend, das so glühte wie das Eisen, auf welches sein starker Schmiedehammer täglich niederschmetterte. Es war ein hübscher, gutgebauter, kräftiger Bursche, mit Augen, die sprühten wie die glühenden Funken aus einem Ofen; schwarzen Haaren, die sich prächtig um seine braunen Schläfen lockten, und einem Lächeln, das Meggs Lob rechtfertigte.
»Schau, wie er es auf den Stufen kalt werden läßt!« sagte Richard. »Meg weiß nicht, was er gern ißt. Wirklich nicht!«
Trotty, ganz Feuer und Flamme, gab Richard sogleich die Hand und wollte ihn gerade eilig anreden, als die Haustür plötzlich geöffnet wurde und ein Bedienter fast in die Kaldaunen getreten wäre.
»Weg hier mit euch! Ihr müßt immer kommen und euch auf unsere Treppe setzen, müßt ihr! Ihr könnt nicht gehen und einmal mit unsern Nachbarn abwechseln, könnt ihr! Wollt ihr euch aus dem Wege scheren oder nicht?«
Genau genommen war die letzte Frage sehr überflüssig, denn sie hatten es bereits getan.
»Was gibt’s, was gibt’s?« fragte der Herr, dem die Tür aufgemacht wurde, indem er mit halbschwerem Schritte, einer eigentümlichen Verschmelzung von Schritt und langsamem Trab, aus dem Hause trat, mit dem ein Mann, welcher den Berg des Lebens bereits wieder hinabsteigt, knarrende Stiefel, eine Uhrkette und reine Wäsche trägt, nicht nur ohne seine Würde zu verletzen, sondern um sich selbst den Anschein zu geben, als hätte er irgendwo wichtige und einträgliche Geschäfte, aus dem Hause treten darf. »Was gibt’s, was gibt’s?«
»Ihr laßt Euch immer wieder kniefällig bitten und flehen«, sagte der Bediente mit großem Nachdruck zu Toby Veck, »unsere Treppe nicht zu belästigen. Warum laßt Ihr sie nicht? Könnt Ihr sie nicht frei lassen?«
»Na, ist gut, ist gut!« sagte der Herr. »Heda, Mann!« und er winkte Toby Veck mit dem Kopfe heran. »Kommt einmal her. Was ist das? Euer Mittagsbrot?«
»Ja, Herr«, entgegnete Trotty, und ließ es in der Ecke stehen.
»Laßt es nicht dort stehen«, rief der Herr; »bringt es mir hierher. So! Dies ist Eure Mittagsmahlzeit, he?«
»Ja, Herr«, erwiderte Trotty und blickte mit sehnsüchtigem Auge und einem Munde, in dem ihm das Wasser zusammenlief, nach den Kaldaunen, die er sich als Leckerbissen bis zuletzt aufgehoben hatte, und die der Herr um und umdrehte.
Zwei andere Herren waren mit dem ersten herausgekommen. Der eine war ein untersetzter Mann von mittleren Jahren, in dürftiger Kleidung und von unzufriedener Miene; er hatte beständig die Hände in den Taschen seiner pfeffer-und salzfarbigen knappen Hose, die infolge dieser Gewohnheit sehr weit abstanden, und war nicht besonders reinlich gewaschen und gebürstet. Der andere Herr trug einen blauen Frack mit blanken Knöpfen und eine weiße Halsbinde. Er hatte ein sehr rotes Gesicht, als wenn zuviel Blut aus seinem Körper sich nach dem Kopfe drängte, und dies war vielleicht auch der Grund, weshalb er recht kaltherzig zu sein schien.
Derjenige, der Tobys Mittagsmahl an der Gabel umdrehte, rief den ersteren unter dem Namen Filer heran, und sie steckten nun beide die Köpfe zusammen. Da Mr. Filer außerordentlich kurzsichtig war, mußte er sich die Überreste von Tobys Mahlzeit so dicht vor die Augen halten, um zu erkennen, was es war, daß Toby das Herz fast stehenblieb. Mr. Filer aß aber nicht.
»Dies ist eine Art animalischen Stoffes, Ratsherr«, sagte Filer, indem er mit einem Bleistift kleine Löcher hineinstach, »den die Arbeiterklasse dieses Landes Kaldaunen nennt.«
Der Ratsherr lachte und zwinkerte mit dem Auge, denn er war ein gar vergnügter Herr, der Ratsherr Cute. Und ein Schlaukopf außerdem, der alles wußte, alles durchgemacht hatte und nicht getäuscht werden konnte. Er hatte die Herzen des Volkes ergründet! Wenn jemand es kannte, so war es Cute.
»Wer aber ißt Kaldaunen?« fuhr Mr. Filer fort und sah sich rings um. »Kaldaunen sind ausnahmslos der am wenigsten ökonomische, der verschwenderischste Konsumtionsartikel, den die Märkte dieses Landes irgendwie produzieren können! Es hat sich durch genaue Untersuchungen ergeben, daß ein Pfund Kaldaunen, wenn sie gekocht werden, sieben Achtel verlieren, ein Fünftel mehr als irgendeine andere animalische Substanz. Kaldaunen sind kostspieliger im eigentlichen Sinne des Wortes als Treibhausananas. Wenn man die Anzahl der Rinder berechnet, welche jährlich nur innerhalb des Stadtweichbildes geschlachtet werden, und wenn man die Quantität der Kaldaunen, welche die Leiber dieser Rinder liefern, wenn man sie zur rechten Zeit schlachtet, noch so niedrig anschlägt, so resultiert daraus, daß von dem Verluste der Kaldaunen, wenn sie gekocht werden, eine Garnison von fünfhundert Mann fünf Monate, jeder Monat von einunddreißig Tagen, und einen Februar lang leben könnte. O über die Verschwendung, die Verschwendung!«
Trotty stand da mit offenem Munde, und die Beine zitterten unter ihm. Er sah aus, als wenn er eine Garnison von fünfhundert Mann auf eigene Faust ausgehungert hätte.
»Wer ißt Kaldaunen?« fragte Mr. Filer mit Wärme. »Wer ißt Kaldaunen?«
Trotty machte eine klägliche Verbeugung.
»Ihr, Ihr?« fragte Mr. Filer. »Dann will ich Euch etwas sagen, mein Freund, Ihr nehmt Eure Kaldaunen Witwen und Waisen vom Munde weg.«
»Das will ich nicht hoffen«, sagte Trotty mit kläglicher Stimme. »Lieber wollte ich Hungers sterben!«
»Dividiert die vorher erwähnte Quantität von Kaldaunen«, fuhr Mr. Filer fort, »mit der ungefähren Zahl der Witwen und Waisen, und es kommt auf jede einzelne ein Quäntchen Kaldaunen. Für Euch bleibt kein Lot übrig. Folglich seid Ihr ein Räuber.«
Trotty war so erschüttert, daß er nicht einmal bekehrte, als der Ratsherr das Stückchen Kaldaune selber verzehrte. Im Gegenteil schien es ihm eine Gemütserleichterung, daß er es nun los war.
»Und was sagen Sie?« fragte der Ratsherr scherzend den Mann mit dem roten Gesicht und dem blauen Frack. »Sie haben Freund Filer gehört. Was sagen Sie?«
»Was kann man sagen?« entgegnete der Angeredete. »Was soll man sagen? Wer kann an einem solchen Menschen« – er meinte Trotty – »in solch entarteten Zeiten Interesse finden? Sehen Sie ihn an! Was für ein Geschöpf! O, die gute alte Zeit, die schöne alte Zeit, die große alte Zeit! Das war die Zeit zur Bildung eines kräftigen Bauernstandes und dergleichen. Das war die Zeit, mit der man alles, ja alles unternehmen konnte. Heutzutage ist nichts mehr los. Ach!« seufzte der Herr mit dem roten Gesichte, »die gute alte Zeit, die gute alte Zeit!«
Der Herr erklärte nicht, was für Zeiten er gerade meinte, auch sagte er nicht, ob er der Gegenwart Vorwürfe machte in dem unselbstsüchtigen Bewußtsein, daß sie nichts sehr Merkwürdiges getan hatte, außer daß sie ihn hervorgebracht hatte.
»Die gute alte Zeit, die gute alte Zeit!« wiederholte er. »Was war das für eine Zeit! Das war eine einzige Zeit! Es ist nicht der Mühe wert, von irgendeiner andern Zeit zu sprechen oder darüber zu streiten, was für Menschen in unserer Zeit leben. Sie nennen dies doch keine Zeit, frage ich? Ich tu’s nicht. Sehen Sie in Strutts Costumes nach und Sie werden sehen, was ein Packträger unter irgendeiner der guten alten englischen Regierungen war.«
»Er hatte unter den besten Verhältnissen