Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

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Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter  Benjamin

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      Aber immer noch pries der Herr mit dem roten Gesicht die gute alte Zeit, die große alte, die herrliche alte Zeit. Mochte ein anderer sagen, was er wollte, er drehte sich mit einer eingelernten Redensart über sie im Kreise umher, wie sich ein Eichhörnchen in seinem Drehbauer herumdreht, von dessen Mechanismus und dessen Kniff es einen ebenso klaren Begriff hat, als der Herr mit dem roten Gesicht von seinem verschwundenen tausendjährigen Reich.

      Es ist möglich, daß der Glaube Trottys an diese sehr unklare alte Zeit nicht ganz zerstört war, denn er fühlte sich in dem Augenblicke unklar genug. Eins aber war ihm klar mitten in seinem Unglück, nämlich: obwohl diese Herren im einzelnen verschiedener Meinung waren, seine Ahnungen von heute morgen und von vielen anderen Morgen waren nur zu wohl begründet. »Nein, nein. Wir können nicht den rechten Weg gehen oder das Rechte tun«, dachte Toby voll Verzweiflung. »Es ist nichts Gutes in uns. Wir sind von Natur böse!«

      Trotty aber hatte ein väterliches Herz in der Brust, das trotz dieser Vorherbestimmung auf irgendeine Weise sich dorthin verirrt haben mußte; er konnte es nicht ertragen, daß Meg in der Blütezeit ihrer kurzen Wonne von diesen weisen Herren ihr Schicksal vorausgesagt erhalten sollte. »Gott sei ihr gnädig«, dachte der arme Trotty, »sie wird es zeitig genug erfahren.«

      Er winkte daher dem jungen Schmied eiligst, daß er sie fortführen möchte; doch dieser war so vertieft in ein Gespräch mit Meg, daß er, da er in einiger Entfernung stand, diesen Wink erst verstand, als der Ratsherr Cute diesen auch bemerkt hatte. Nun hatte der Ratsherr seine Weisheit noch nicht an den Mann bringen können, denn er war ein Philosoph, und zwar ein praktischer, o, nein, ein sehr praktischer Philosoph; und da er keinen seiner Zuhörer zu verlieren Lust hatte, rief er: »Halt!«

      »Sie wissen«, sagte der Ratsherr zu seinen beiden Freunden mit selbstgefälligem Lächeln über dem ganzen Gesicht, das er immer zur Schau trug, »ich bin ein schlichter Mann und ein Praktiker, und ich gehe auf einfachem; praktischem Wege zu Werke. So mache ich’s. Es ist gar kein Geheimnis oder eine Schwierigkeit, mit dieser Art von Leuten zu verkehren, wenn man sie nur versteht und in ihrer eigenen Weise mit ihnen sprechen kann. Heda, Ihr, Mann! sagt Ihr mir doch nicht, oder irgend jemand, der mein Freund sein will, daß Ihr nicht immer genug zu essen habt, und sogar vom Besten, weil ich das besser weiß. Ich habe Eure Kaldaunen gekostet, und Ihr könnt mich nicht uzen. Ihr wißt, was leimen heißt, he? Nicht wahr, das ist das rechte Wort? Ha, ha, ha! ‘s ist das Leichteste auf der Welt«, sagte der Ratsherr, indem er sich wieder an seine Freunde wandte, »mit dieser Art Leuten zu verkehren, wenn man sie nur zu behandeln versteht.«

      Ein prachtvoller Mann für das niedere Volk, der Ratsherr Cute! Immer bei guter Laune! Ein leutseliger, gesprächiger, spaßhafter Herr, der die armen Leute kannte!

      »Seht, Freund«, fuhr der Ratsherr fort, »es wird viel Unsinn geschwatzt über Mangel und ›böse Zeit‹; nicht wahr, so heißt die Redensart? Ha, ha, ha! Ich werde sie ausrotten. Ferner hört man überall die alberne Klage über Hungerleiden des Volkes – ich werde sie ebenfalls ausrotten. So soll es sein, sehen Sie«, sagte er wieder zu seinen Freunden gewendet, »man kann unter dieser Art Leuten alles ausrotten, wenn man nur weiß, wie man es anfassen muß!«

      Trotty nahm Megs Hand und zog sie durch seinen Arm; indes schienen seine Gedanken ganz andere zu sein, so daß er nicht wußte, was er tat.

      »Eure Tochter, he?« fragte der Ratsherr, indem er ihr vertraulich unter das Kinn griff.

      Immer leutselig mit den arbeitenden Klassen, der Ratsherr Cuty! Der wußte, was denen gefiel! Nicht im geringsten stolz!

      »Wo ist ihre Mutter?« fragte der würdige Herr.

      »Tot«, versetzte Toby. »Ihre Mutter war Wäscherin und wurde in den Himmel abberufen, als diese geboren wurde!«

      »Doch nicht, um dort Wäsche zu waschen?« bemerkte der Ratsherr scherzend.

      Konnte Toby sich seine Frau im Himmel von ihren alten Beschäftigungen getrennt denken oder nicht, so fragen wir uns. Wenn die Frau Ratsherr Cute gestorben wäre, würde der Herr Ratsherr Cute sie sich im Himmel in irgendeiner Stellung gedacht und ausgemalt haben?

      »Und Ihr freit wohl um sie, he?« sagte Cute zu dem jungen Schmied.

      »Ja«, erwiderte Richard hastig, denn die Frage ärgerte ihn; »und wir werden uns am Neujahrstage verheiraten.«

      »Was sagt Ihr?« sagte Filer barsch. »Verheiraten!«

      »Nun ja, das ist unsere Absicht«, erwiderte Richard. »Wir müssen uns beeilen, verstehen Sie, für den Fall, daß vorher etwas ausgerottet werden sollte.«

      »Ach!« seufzte Filer, »rotten Sie das wirklich aus, Ratsherr, und Sie werden etwas Gutes stiften. Heiraten, heiraten! Die Unkenntnis der ersten Grundsätze der Staatsökonomie auf seiten dieser Leute, ihre Unvorsichtigkeit, ihre Schlechtigkeit beim Himmel genügt, um – Nun schauen Sie sich einmal dieses Paar an, tun Sie mir den Gefallen!«

      Gewiß, sie waren wohl des Ansehens wert. Und sie konnten nichts Vernünftigeres und Rechtschaffeneres vorhaben als die Ehe.

      »Man mag so alt werden wie Methusalem«, sagte Filer, »und mag sich sein ganzes Leben lang plagen und bergehoch Tatsachen auf Zahlen, Tatsachen auf Zahlen, Tatsachen auf Zahlen häufen, doch nie wird man sie überzeugen, daß sie kein Recht und keine Ursache in der Welt haben, zu heiraten, und ebensowenig kann man hoffen, daß sie kein Recht und keine Ursache in der Welt haben, geboren zu werden. Und wir wissen doch, daß sie kein Recht und keine Ursache haben. Wir haben dies längst als mathematisches Axiom erkannt.«

      Diese Argumentation amüsierte Ratsherr Cute unendlich; er legte seinen rechten Zeigefinger an die Nase, als wollte er damit seinen beiden Freunden sagen: »Nun hört mal auf mich! Seht einmal den Praktiker!« Er rief Meg zu sich heran.

      »Komm hierher, mein Kind!« sagte Ratsherr Cute.

      Ihrem jungen Liebsten war das heiße Blut in den letzten fünf Minuten vor Zorn zu Kopfe gestiegen. Doch wollte er seinem Unwillen nicht nachgeben. Er bezwang sich, trat einen Schritt vor, als Meg sich dem Herrn näherte, und stellte sich an ihre Seite. Trotty hielt immer noch ihre Hand in seinem Arm, sah aber so verstört von einem Gesicht zum andern, wie ein Träumender.

      »Ich will dir in ein paar Worten einen guten Rat geben, Mädchen«, sagte der Ratsherr in seiner leutseligen, freundlichen Weise. »Es ist meines Amtes, Rat zu erteilen, denn ich bin Richter. Du weißt doch, daß ich Richter bin, nicht wahr?«

      Meg bejahte schüchtern. Jedermann wußte, daß Ratsherr Cute Richter war! O Himmel, immer so tätig als Richter! Wer konnte sich rühmen, in den Augen des Publikums so glänzend dazustehen, wie Cute!

      »Du hast die Absicht, zu heiraten«, fuhr der Ratsherr fort. »Das ist sehr ungehörig und unschicklich, da du dem weiblichen Geschlecht angehörst! Doch davon wollen wir absehen. Wenn du aber verheiratet bist, wirst du dich mit deinem Manne zanken und wirst ein unglückliches Weib sein. Du glaubst es vielleicht nicht; aber es wird so kommen, wie ich dir sage. Ich will dir das klar machen, weil ich mir vorgenommen habe, unglückliche Ehen auszurotten. Komme also ja nicht zu mir. Ferner wirst du Kinder – vielleicht Jungen bekommen. Diese Jungen werden natürlich schlecht erzogen werden und auf den Straßen herumwildern ohne Schuh’ und Strümpfe. Bedenke, meine junge Freundin, ich werde sie summarisch bestrafen, denn ich bin entschlossen, Knaben ohne Schuh’ und Strümpfe auszurotten. Vielleicht, sogar höchst wahrscheinlich, wird dein Mann jung sterben und dich mit einem oder ein paar Kindern zurücklassen. Dann wirst du vor die Tür gesetzt werden und dich auf den Straßen umhertreiben. Dann verirre dich ja nicht in meine Nähe, meine Liebe, denn es ist mein

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