Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг
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Der alte Mann stellte sich steif auf und salutierte.
»Denn« – Kim übersetzte die scharfen Sätze, die er vor dem Ankleidezimmer in Umballa erlauscht und gut behalten hatte, in die Landessprache – »Denn,« sagte Er, »wir haben viel zu lange gezögert. Es ist nicht Krieg – es ist Bestrafung. Snff!«
»Genug. Ich glaube Dir. Ich habe ihn so gesehen im Rauch der Schlachten. Gesehen und gehört. Er ist es.«
»Ich sah keinen Rauch« – Kims Stimme schraubte sich hinauf zu dem verzückten Singsang der Wahrsager von der Landstraße – »ich sah dies in der Dunkelheit. Erst kam ein Mann, den Platz klar zu machen. Dann kamen Reiter. Dann kam Er und stand in einem Kreis von Licht. Das Übrige folgte, wie ich gefügt habe. Alter Mann, habe ich Wahrheit gesprochen?«
»Das ist Er. Ohne jeden Zweifel, Er ist es.« Die Menge tat einen langen, zitternden Atemzug und starrte abwechselnd die Gestalt des noch immer erstaunten alten Mannes und des zerlumpten Kim an, die sich gegen das purpurne Zwielicht abhob.
»Sagte ich nicht – sagte ich nicht, daß er von einer anderen Welt stammt?« rief stolz der Lama. »Er ist der Freund der ganzen Welt. Er ist der Freund der Sterne!«
»Wenigstens,« rief ein Mann, »betrifft es uns nicht. He! Du kleiner Wahrsager, wenn die Gabe Dir jederzeit treu bleibt – ich habe eine rotgefleckte Kuh – vielleicht ist sie die Schwester Deines Ochsen – was weiß ich –«
»Oder was kümmert’s mich,« sprach Kim, »meine Sterne befassen sich nicht mit Deinem Rindvieh.«
»Aber,« fiel eine Frau ein, »sie ist so krank. Mein Mann ist ein Büffel, oder er hätte seine Worte besser gewählt. Sage Du mir, ob sie wieder gesund wird?«
Ein Knabe gewöhnlicher Art hätte wohl das Spiel weiter getrieben: Kim aber kannte nicht seit dreizehn Jahren die Stadt Lahore und vor allem die Fakire bei dem Taksali-Tor, ohne auch die menschliche Natur zu kennen.
Der Priester blickte seitwärts nach ihm hin mit einem etwas bitteren, trockenen Lächeln.
»Ist denn kein Priester in diesem Dorfe? Mich dünkt, ich hätte einen mächtigen gesehen, soeben noch,« rief Kim.
»Ja – aber –« begann die Frau.
»Aber Du und Dein Mann, Ihr wolltet die Kuh für eine Handvoll Dank kuriert haben!« Der Schuß traf: die beiden waren das geizigste Paar im Dorfe. »Es ist nicht recht, die Tempel zu verkürzen. Gebt Euerem eigenen Priester ein junges Kalb, und, wenn Euere Götter nicht unwiderruflich erzürnt sind, wird die Kuh innerhalb eines Monats Milch geben.«
»Ein Meisterbettler bist Du,« schnurrte der Priester. »Nicht die List von vierzig Jahren hätte es besser machen können. Sicherlich hast Du auch den alten Mann reich gemacht?«
»Ein wenig Mehl, ein wenig Butter und ein Mund voll Cardamom – kann man davon reich werden?« erwiderte Kim, von dem Lob geschmeichelt, aber stets vorsichtig. »Und, wie Du sehen kannst, er ist schwachsinnig. Aber es nützt mir, ihm zu dienen, weil ich wenigstens den Weg kennen lerne.«
Er wußte, wie es die Fakire vom Talsali-Tor trieben, wenn sie untereinander redeten, und ahmte selbst den Tonfall ihrer Schüler nach.
»Ist dieses Suchen denn Wahrheit, oder ein Mäntelchen für andere Zwecke? Vielleicht gilt es Gewinn.«
»Er ist verrückt – ganz und gar – verrückt. Es ist nichts weiter.«
Hier humpelte der alte Soldat herbei und fragte Kim, ob er seine Gastfreundschaft für die Nacht annehmen wolle. Der Priester riet ihm, es zu tun; bestand aber darauf, daß die Ehre, den Lama aufzunehmen, dem Tempel gebühre – wozu der Lama arglos lächelte. Kim blickte von einem Gesicht zum anderen und hatte seine eigenen Gedanken.
»Wo hast Du das Geld?« wisperte er, den alten Mann in die Dunkelheit mitziehend.
»Auf meiner Brust. Wo sonst?«
»Gib es mir. Schnell und leise gib es mir.«
»Aber warum? Hier ist keine Fahrkarte zu kaufen.«
»Bin ich Dein Chela, oder bin ich es nicht? Behüte ich nicht Deine alten Füße auf allen Wegen? Gib mir das Geld; beim Morgengrauen gebe ich es Dir zurück.« Er tauchte die Hand in des Lama’s Gürtel und nahm die Börse heraus.
»Sei es so – sei es so.« Der alte Mann senkte den Kopf. »Dies ist eine große und schreckliche Welt. Hätte nie geglaubt, daß es so viele Menschen darin gibt!«
Am andern Morgen war der Priester sehr schlechter Laune, der Lama aber ganz wohlgemut. Kim hatte einen interessanten Abend mit dem alten Soldaten verbracht, der, seinen Kavallerie-Säbel auf den mageren Knien balanzierend, Geschichten von der Meuterzeit und von jungen Obersten, die seit dreißig Jahren in ihren Gräbern ruhten, erzählte, bis Kim in Schlaf fiel.
»Wahrlich«, sprach der Lama, »die Luft dieses Landes ist gut. Ich habe leichten Schlaf wie alle alten Menschen; diese letzte Nacht aber schlief ich, ohne aufzuwachen, bis zum hellen Tag. Selbst jetzt bin ich noch schläfrig.«
»Nimm einen Trunk heiße Milch«, sagte Kim, der nicht selten den Opiumrauchern seiner Bekanntschaft solche Gegenmittel gebracht hatte. »Es ist Zeit, daß wir uns auf den Weg machen.«
»Auf den großen Weg, der alle Flüsse von Hind überschreitet«, sprach der Lama freudig. »Laß uns gehen. Aber wie denkst Du, Chela, sollen wir diesen Leuten, dem Priester besonders, ihre große Güte vergelten Sie sind but-parast (Götzendiener), das ist wahr, aber in anderen Leben kann ihnen möglicherweise Erleuchtung werden. Eine Rupie für den Tempel? Das Ding darinnen ist nichts weiter als Stein und rote Farbe: aber das Herz der Menschen müssen wir anerkennen, wenn und wo es gut ist.«
»Heiliger, bist Du jemals allein Deines Weges gezogen?« Kim blickte scharf aufwärts, gleich einer der auf den Feldern geschäftigen indischen Krähen.
»Sicherlich, Kind: von Kulu nach Pathankot – von Kulu, wo mein erster Chela starb. Wenn die Menschen gütig waren, boten wir ihnen Gaben, und alle Menschen in all den Bergen waren wohlgesinnt.«
»In Hind ist das anders«, sagte Kim trocken. »Ihre Götter sind vielarmig und übelgesinnt. Laß’ die in Ruh!«
»Ich wollte Dich ein wenig auf Deinen Weg bringen, Freund der ganzen Welt – Dich und Deinen gelben Mann.«
Der alte Soldat Kam die noch in Dämmerschatten gehüllte Dorfstraße auf einem hageren, krummbeinigen Pony im Paßgang herabgeritten.
»In letzter Nacht sind die Quellen der Erinnerung ln meinem so vertrockneten Herzen aufgebrochen und das war mir ein Segen. Wahrlich, es ist Krieg in der Luft. Ich rieche es. Sieh, ich habe mein Schwert mitgebracht.«
Er saß langbeinig auf dem kleinen Tier, das große Schwert an der Seite – Hand am Schwertknauf – scharf über das flache Land nordwärts spähend.
»Erzähle mir noch einmal wie Er in Deiner Vision erschien. Komm und sitze hinter mir. Das Tier kann uns beide tragen.«
»Ich bin der Schüler dieses Heiligen«, sprach Kim, als sie das Dorftor passierten. Die