Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
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Aber für vollendete Psychologie genügt es nicht, das feinste, schneidendste Skalpell, das erlesenste Instrument des Geistes zu besitzen – auch die Hand des Psychologen muß stählern sein, geschmeidiges und hartes Metall, sie darf nicht zittern und zurückzucken bei ihren Operationen. Denn Psychologie ist mit Begabung noch nicht erschöpft, sie ist vor allem auch Sache des Charakters, jenes Mutes, »alles zu denken, was man weiß«, sie ist im idealen Fall wie bei Nietzsche Erkenntnis fähigkeit, gepaart mit einer ganz urhaften männlichen Kraft des Erkenntnis willens. Der wirkliche Psychologe muß dort, wo er sehen kann, auch sehen wollen, er darf nicht aus einer sentimentalen Nachsicht, einer privaten Ängstlichkeit und Scheu vorbeisehen und vorbeidenken oder sich von Rücksichten und Sentimenten einschläfern lassen. Bei ihnen, den gerechten Wägern und Wächtern, »deren Aufgabe das Wachsein ist«, darf es keine Konzilianz geben, keine Gutmütigkeit, keine Ängstlichkeit, kein Mitleid, keine der Schwächen (oder Tugenden) des bürgerlichen, des mittleren Menschen. Ihnen, den Kriegern, den Eroberern des Geistes, ist es nicht erlaubt, auf ihren verwegenen Patrouillengängen irgendeine Wahrheit, die sie ertappen, gutmütig entwischen zu lassen. In Dingen der Erkenntnis ist »Blindheit nicht Irrtum, sondern Feigheit«, Gutmütigkeit ein Verbrechen, denn wer Rücksicht hat auf Scham und Wehetun, Furcht vor dem Geschrei der Entblößten, vor der Häßlichkeit der Nacktheit, der entdeckt niemals letztes Geheimnis. Jede Wahrheit, die nicht bis zum Äußeren geht, jede Wahrhaftigkeit ohne Radikalismus hat keinen ethischen Wert. Deshalb auch Nietzsches Härte gegen alle, die aus Trägheit oder Denkfeigheit die heilige Pflicht zur Entschlossenheit versäumen, deshalb sein Zorn gegen Kant, daß er den Gottbegriff durch eine heimliche Tür in sein System wieder einschleichen ließ, darum sein Haß gegen alles Blinzeln und Augenzudrücken in der Philosophie, gegen den »Teufel oder Dämon der Unklarheit«, der die letzte Erkenntnis feige verschleiert oder verwischt. Es gibt keine abgeschmeichelten Wahrheiten großen Stils, keine zutraulich und lockend herausgeplauderten Geheimnisse: nur mit Gewalt, Kraft und Unerbittlichkeit läßt sich die Natur ihr Kostbarstes abringen, nur mit Brutalität werden in der Moral des »großen Stils« die »Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen« gestellt. Alles Verborgene fordert harte Hände, unerbittliche Intransigenz: ohne Redlichkeit gibt es kein Erkennen, ohne Entschlossenheit keine Redlichkeit, keine »Gewissenhaftigkeit des Geistes.« »Wo meine Redlichkeit aufhört, bin ich blind; wo ich wissen will, will ich auch redlich sein, nämlich hart, strenge, enge, grausam und unerbittlich.«
Diesen Radikalismus, diese Härte und Unerbittlichkeit hat der Psychologe in Nietzsche nicht geschenkt bekommen vom Schicksal wie seinen falkenhaften Blick: ihn hat er erkauft um den Preis seines ganzen Lebens, seiner Ruhe, seines Schlafes, seiner Bequemlichkeit. Von Anfang an eine weiche, gütige, umgängliche, eher heitere und durchaus wohlgesinnte Natur, muß sich Nietzsche erst durch eine spartanische Gewaltsamkeit des Willens unzugänglich und unerbittlich gegen das eigene Gefühl machen: sein halbes Leben hat er gleichsam im Feuer verbracht. Man muß tief in ihn hineinsehen, um die ganze Schmerzhaftigkeit dieses sittlichen Prozesses nachfühlend zu erleben. Denn mit dieser »Schwäche«, mit seiner Milde und Güte brennt Nietzsche auch alles Menschliche aus, das ihn mit den Menschen verbindet; er verdirbt sich seine Freundschaften, seine Beziehungen, seine Bindungen, und sein letztes Stück Leben wird allmählich so heiß, so weißglühend in der eigenen Flamme, daß jeder sich die Hand verbrennt, der an ihn rühren will. So wie man mit Höllenstein eine Wunde ätzt, um sie rein zu erhalten, so beizt Nietzsche sein Gefühl gewaltsam aus, um es rein, um es redlich zu bewahren; er behandelt sich selbst schonungslos mit dem rotglühenden Eisen seines Willens zur äußersten Wahrhaftigkeit: auch seine Einsamkeit ist darum eine erzwungene. Aber als echter Fanatiker gibt er alles preis, was er liebt, selbst Richard Wagner, dessen Freundschaft ihm heiligste Begegnung gewesen; er macht sich arm, er macht sich menscheneinsam und verhaßt, einsiedlerisch und unglücklich, nur um wahr zu bleiben, nur um das Apostolat der Redlichkeit vollkommen zu erfüllen. Wie bei allen Dämonischen wird die Leidenschaft – bei ihm jene der Redlichkeit – allmählich monomanisch und zehrt in ihrer Flamme den ganzen Besitz seines Lebens auf; wie alle Dämonischen kennt er schließlich nichts mehr als diese eine Leidenschaft. Man lasse darum doch endlich die schullehrerhafte Frage: Was wollte Nietzsche, was meinte Nietzsche, welchem System, welcher Weltanschauung strebt er zu? Nietzsche wollte nichts: in ihm genießt eine übermächtige Leidenschaft zur Wahrheit sich selbst. Sie weiß von keinem »Um zu« – Nietzsche denkt nicht, um die Welt zu verbessern oder zu belehren, noch um sie oder sich zu beruhigen: sein ekstatischer Denkrausch ist Selbstzweck, Selbstgenuß, eine ganz private, eine vollkommen selbstsüchtige und elementare Wollust wie jede dämonische Leidenschaft. Niemals geht es bei diesem ungeheuren Kraftaufwand um eine »Lehre« – er ist längst hinaus über »die edle Kinderei und Anfängerei des Dogmatisierens« – und noch weniger um eine Religion. (»In mir ist nichts von einem Religionsstifter. Religionen sind Pöbelaffären.«) Nietzsche treibt Philosophie wie eine Kunst, und als echter Künstler sucht er darum nicht Resultate, kalte Endgültigkeiten, sondern nur einen Stil, den »großen Stil in der Moral«, und ganz als Künstler erlebt und genießt er alle Schauer der plötzlichen Inspirationen. Vielleicht, ja, wahrscheinlich bleibt es darum ein Wortirrtum, Nietzsche einen Philosophen, also einen Freund der Sophia, der Weisheit, zu nennen. Denn der Leidenschaftliche ist immer unweise, und nichts war Nietzsche fremder, als zum gewohnten Philosophenziel zu kommen, zu einer Schwebe des Gefühls, zu einer Rast und Entspannung, zu einer Tranquillitas, einer gesättigten »braunen« Weisheit – zu dem starren Standpunkt einer einmaligen Überzeugung. Er »braucht und verbraucht« Überzeugungen, wirft wieder weg, was er gewinnt, und wäre darum besser ein Philaleth genannt, ein leidenschaftlich Passionierter der Aletheia, der Wahrheit, jener jungfräulichen grausamen Versuchergöttin, die immer wie Artemis ihre Liebhaber in ewige Jagd treibt, um ihnen doch hinter allen ihren zerrissenen Schleiern immer unerreichbar zu bleiben. Wahrheit, wie Nietzsche sie versteht, ist eben keine starre, keine kristallene Form der Wahrheit, sondern der feurig glühende Wille zum Wahrsein und Wahrbleiben, eine Lebenserfüllung im Sinne der höchsten Fülle: Nietzsche will nie und niemals glücklich, immer aber wahrhaftig sein. Er sucht nicht (wie neun Zehntel aller Philosophen) die Rast, sondern als Knecht und Höriger des Dämons den Superlativ aller Erregung und Bewegung. Jeder Kampf aber um das Unerreichbare steigert sich zum Heldischen und alles Heroische wiederum notwendig empor in seine heiligste Konsequenz, in den Untergang.
Denn ganz unausweichlich muß eine solche fanatische Überspannung des Redlichkeitsverlangens, eine so unerbittliche und gefährliche Forderung wie jene Nietzsches, mit der Welt in einen mörderischen, selbstmörderischen Konflikt geraten. Alles Leben ist im letzten auf Konzilianz, auf Nachgiebigkeit angelegt (was Goethe, der in seinem Wesen das Wesen der Natur so weise wiederholte, frühzeitig erkannte und nachbildete). Es bedarf, um sich im Gleichgewicht zu erhalten, ebenso wie die Menschen der Mittelzustände, der Nachgiebigkeiten, der Kompromisse und Paktierungen. Und wer die durchaus unnaturhafte, die absolut anthropomorphe Forderung stellt, in dieser Welt nicht mitoberflächlich, nicht mitkonziliant, nicht mitnachgiebig zu sein, wer sich gewaltsam loslösen will aus dem durch Jahrtausende gewobenen Netz von Bindungen und konventionellen Vereinbarungen, tritt ungewollt in tödliche Gegnerschaft zur Gesellschaft und zur Natur. Je unerbittlicher ein einzelner die Forderung stellt, es »ganz rein haben zu wollen«, um so feindseliger stellt sich die Zeit gegen ihn ein.