Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
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Wandlungen zu sich selbst
Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zugrunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln: sie hören auf, Geist zu sein.
Die Menschen der Ordnung, so farbblind sie sonst dem Einzigartigen gegenüberstehen mögen, haben doch einen untrüglichen Instinkt für das ihnen Feindselige; lange bevor Nietzsche sich als der Amoralist, der Brandstifter ihrer umfriedeten Moralhürden enthüllte, haben sie ihn befeindet: ihre Witterung wußte mehr von ihm als er selbst. Er war ihnen unbequem als ewiger Außenseiter aller Kategorien, als Mischling von Philosoph, Philolog, Revolutionär, Künstler, Literat und Musikant – von der ersten Stunde ist er den Fachmenschen als Überschreiter der Grenzen verhaßt. Kaum veröffentlicht der Philologe sein Frühwerk, so prangert der Philologe Wilamowitz (er ist es geblieben ein halbes Jahrhundert, indes sein Gegner hinauswuchs in Unsterblichkeit) den Grenzüberschreiter bei den Kollegen an. Ebenso mißtrauen – und wie mit Recht! – die Wagnerianer dem leidenschaftlichen Panegyriker, die Philosophen dem Erkenner: noch im Puppenzustand des Philologen, noch als Unbeflügelter hat Nietzsche bereits die Fachlichen gegen sich. Nur das Genie, der Wissende um den Wandel, nur Richard Wagner liebt im Werdenden den zukünftigen Feind. Die andern aber, sie spüren und wittern an seinem weit ausholenden kühnen Gang sofort sein Unverläßlichsein, das Nicht-treu-Bleiben an der Überzeugung, jene maßlose Freiheit, die der Freieste gegen alles, also auch gegen sich selber fühlt. Und selbst heute, da seine Autorität sie duckt und einschüchtert, möchten die Fachmenschen gerne den »Prinzen Vogelfrei« wieder in ein System eingittern, in eine Lehre, eine Religion, in eine Botschaft. Sie möchten ihn starr haben wie sich selbst, an Überzeugungen gebunden, in eine Weltanschauung vermauert – gerade das, was er am meisten fürchtete. Ein Definitives, ein Unwidersprochenes möchten sie dem Wehrlosen aufzwingen und den Nomadischen (nun, da er die Welt des Geistes, die unendliche, erobert) festbannen in ein Haus, das er niemals hatte und niemals ersehnte.
Aber Nietzsche ist nicht zu bannen in eine Lehre, nicht festzunageln an eine Überzeugung – nie ist auch auf diesen Blättern das Schulmeisterkunststück versucht, aus einer erschütternden Tragödie des Geistes eine kalte »Erkenntnistheorie« zu exzerpieren – denn nie hat sich der leidenschaftliche Relativist aller Werte an irgendein Wort seiner Lippe, an eine Überzeugung seines Gewissens, an eine Leidenschaft seiner Seele dauernd gebunden oder gar verpflichtet erachtet. »Ein Philosoph braucht und verbraucht Überzeugungen«, antwortet er überlegen den Seßhaften, die stolz sich ihres Charakters und ihrer Überzeugungen rühmen. Jede seiner Meinungen hat er nur als Durchgang, ja sogar sein eigenes Ich, seine Haut, seinen Leib, sein geistiges Gebilde hat er immer nur als Vielzahl, als »Gesellschaftsbau vieler Seelen« empfunden: wörtlich sagt er einmal das allerkühnste Wort: »Es ist nachteilig für den Denker, an eine einzige Person gebunden zu sein. Wenn man sich selbst gefunden hat, muß man versuchen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren – und dann wieder zu finden.« Sein Wesen ist fortwährende Verwandlung, Selbsterkennen durch Selbstverlust, also ewiges Werden, und niemals ein starres, ruhendes Sein: »Werde, der du bist« darum der einzige Lebensimperativ, der sich in seinen ganzen Schriften findet. Nun hat ja auch Goethe ähnlich gespottet, er sei immer schon in Jena, wenn man ihn in Weimar suche, und Nietzsches Lieblingsbild von der abgestreiften Schlangenhaut steht hundert Jahre früher in einem Goethe-Brief, aber doch, wie kontradiktorisch sind Goethes besonnene Entwicklung und Nietzsches eruptive Verwandlung! Denn Goethe verbreitert sein Leben um ein fixes Zentrum, so wie ein Baum um einen verborgenen inneren Schaft jährlich Ring an Ring setzt und, während er die äußere Rinde sprengt, immer fester, wuchtender, höher und weit ausschauender wird. Seine Entwicklung geschieht durch Geduld, durch eine stetige zähe, aufzunehmende Kraft, und bei allem Fortwachsen gleichzeitig durch Resistenz der Selbstverteidigung – die Nietzsches aber immer durch Gewalt, durch stoßhafte Vehemenz des Willens. Goethe erweitert sich, ohne je einen Teil seines Selbst preiszugeben, er braucht sich nie zu verleugnen, um sich zu steigern; Nietzsche dagegen, der Wandelhafte, muß immer sich ganz zerstören, um sich ganz wieder aufzubauen. Alle seine Selbstgewinnungen und Neuentdeckungen resultieren aus mörderischen Selbstzerätzungen und Glaubensverlusten, aus Dekomposition – um höher zu kommen, muß er immer einen Teil seines Ichs wegwerfen (indes Goethe nichts preisgibt und nur chemisch verwandelt und destilliert). Nichts bleibt in seinem wandelhaften Weltbild vom Früheren, vom Vergangenen gültig und unwidersprochen: darum sind auch seine einzelnen Phasen gar nicht brüderhaft, sondern feindselig gegeneinandergestellt. Immer ist er auf dem Weg nach Damaskus; nicht bloß eine einmalige Umwendung seines Glaubens, seines Gefühls wird ihm zuteil, sondern unzählige, denn jedes neue geistige Element dringt bei ihm nicht bloß ins Geistige ein, sondern bis ins Eingeweide: moralische und intellektuelle Erkenntnisse formen sich bei ihm chemisch in andern Blutlauf, anderes Gefühl, anderes Denken um. Als verwegener Spieler setzt Nietzsche (wie Hölderlin einmal von sich fordert) »die ganze Seele der zerstörenden Macht der Wirklichkeit aus«, und von allem Anfang an haben Erfahrung und Eindrücke auf ihn diese Form vehementer und völlig vulkanischer Einbrüche. Wie er als junger Student in Leipzig Schopenhauers »Die Welt als Wille und