Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig

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Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten - Stefan Zweig

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am Leben ist, im Staunen, daß in den tiefsten Depressionen ihm die Produktivität, statt zu erlahmen, nur gewachsen ist, proklamiert, daß diese Leiden, diese Entbehrung für ihn »zur Sache«, zur heiligen, ihm einzig heiligen Sache seines Lebens gehören. Und von diesem Augenblick an, wo sein Geist kein Mitleid mehr mit dem Körper hat, kein Mit-Leiden mit seinem Leiden, sieht er zum erstenmal sein Leben in einer neuen Perspektive, seine Krankheit in tieferem Sinn. Mit ausgebreiteten Armen nimmt er sie in sein Schicksal wissend hinein als ein Notwendiges, und da er als der fanatische »Fürsprecher des Lebens« alles an seiner Existenz liebt, so sagt er auch zu seinem Leiden jenes hymnische Ja Zarathustras, jenes jubelnde »Noch einmal! noch einmal in alle Ewigkeit!« Aus dem bloßen Anerkennen wird ein Erkennen, aus dem Erkennen eine Dankbarkeit. Denn aus dieser höheren Schau, die den Blick weghebt vom eigenen Leiden, entdeckt er (mit jener übertreiblichen Freude an der Magie des Extrems), daß er keiner Macht der Erde so sehr verbunden und verschuldet ist wie seiner Krankheit, daß er gerade dem grimmigsten Folterknecht sein Höchstes dankt: die Freiheit. Die Freiheit der äußeren Existenz, die Freiheit des Geistes. Denn überall, wo er ruhen, träg werden, verdicken, verflachen, wo er vorzeitig sich in Amt, Beruf und Geistesform versteinern wollte, hat sie ihn mit ihrem Stachel gewaltsam herausgetrieben. Der Krankheit dankt er, daß er vom Militärdienst errettet und der Wissenschaft zurückgegeben war, der Krankheit dankt er, daß er in dieser Wissenschaft und Philologie nicht stocken blieb; sie hat ihn aus dem Baseler Universitätskreis hinaus in die »Pension« und damit in die Welt, zurück in sich selbst gejagt. Den kranken Augen ist er verpflichtet für die »Erlösung vom Buche«, »der größten Wohltat, die ich mir selbst erwiesen habe«. Aus allen Rinden, die ihn umwachsen wollten, aus allen Bindungen, die ihn zu umschließen begannen, hat sein Leiden ihn (schmerzhaft, aber hilfreich) herausgeschält. »Die Krankheit löst mich gleichsam aus sich selbst heraus«, bekennt er selbst – sie war ihm Geburtshelfer des innern Menschen, Wehemutter und Wehetäter zugleich. Ihr dankt er, daß das Leben für ihn statt einer Gewohnheit eine Erneuerung wurde, eine Entdeckung: »Ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet.«

      Denn – so überjauchzt der Gequälte nun dankbar seine Qualen in seiner großen Hymne an den heiligen Schmerz – nur das Leiden allein macht wissend. Die bloß angeerbte und nie erschütterte Bärengesundheit ist dumpf und ahnungslos zufrieden. Sie will nichts, sie fragt nichts, und darum gibt es keine Psychologie bei den Gesunden. Alles Wissen kommt aus dem Leiden, »der Schmerz fragt immer nach den Ursachen, während die Lust geneigt ist, stehenzubleiben und nicht nach rückwärts zu schauen«. Man wird »immer feiner im Schmerz«, das Leiden, das stete wühlende, schabende Leiden gräbt das Erdreich der Seele um, und gerade das Pflughafte, das Schmerzhafte dieses innern Umwühlens schafft erst Auflockerung für die neue geistige Frucht. »Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, er allein zwingt uns, in unsere letzte Tiefe zu steigen«, und gerade wem er beinahe tödlich war, darf dann das stolze Wort von sich sagen: »Ich weiß mehr vom Leben, weil ich so oft nahe daran war, es zu verlieren.«

      Nicht durch einen Kunstgriff also, durch ein Verneinen seines körperlichen Notstandes überwindet Nietzsche alles Leiden, sondern durch Erkennen: der souveräne Wertfinder entdeckt sich den Wert seiner Krankheit. Ein umgekehrter Märtyrer, hat er nicht zuerst den Glauben, für den er sich quälen läßt; sondern erst aus der Qual, aus der Folter formt er sich den Glauben. Aber seine wissende Chemie entdeckt nicht nur den Wert seines Krankseins, sondern auch seinen Gegenpol: den Wert der Gesundheit; sie beide erst schenken das Vollgefühl des Lebens, den ewigen Spannungszustand von Qual und Ekstase, mit dem der Mensch sich ins Unendliche schnellt. Beide sind notwendig, Krankheit als Mittel, Gesundheit als Zweck, Krankheit als Weg, Gesundheit als Ziel. Denn Leiden im Sinne Nietzsches ist ja nur das eine dunkle Ufer der Krankheit, das andere erglänzt in einem unsäglichen Licht, es heißt Genesen, und nur vom Ufer des Leidens wird es erreicht. Genesen, Gesundwerden bedeutet aber mehr als Erreichung des normalen Lebenszustandes, nicht nur Verwandlung, sondern unendlich mehr, es ist auch Steigerung, Erhöhung und Verfeinerung: man geht aus der Krankheit »gehäuteter, kitzliger, mit einem feineren Geschmack für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen und einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude« hervor, kindlich zugleich und hundertmal raffinierter, als man je gewesen ist. Und diese zweite Gesundheit hinter der Krankheit, diese nicht blind hingenommene, sondern sehnsüchtig ersehnte, gewaltsam erzwungene, mit hundert Seufzern, Schreien und Notständen erkaufte, diese »eroberte, erlittene« Gesundheit ist tausendmal lebendiger als das stumpfe Wohlbehagen der immer Gesunden. Und wer von der zitternden Süße, dem prickelnden Rausch solchen Genesens einmal gekostet, der verbrennt vor Gelüst, ihn immer wieder zu erleben: er wirft sich gern immer und immer wieder in die schweflige Feuerflut der brennenden Qualen, nur um immer wieder zu diesem »bezaubernden Gefühl des Gesundens« zu gelangen, zu dieser goldenen Trunkenheit, die Nietzschen all die gemeinen Stimulantia des Alkohols und Nikotins tausendfach ersetzt und sie übertrifft. Aber kaum daß Nietzsche den Sinn seines Leidens sich entdeckt und die große Wollust des Gesundens, so will er sie in ein Apostolat verwandeln, in den Sinn der Welt. Wie alle Dämonischen, erliegt er der eigenen Ekstase und kann nun nicht mehr satt werden an dem funkelnden Wechselspiel von Lust und Leiden; er will noch tiefer hinabgemartert sein in die Qual, um sich höher hinaufzuschwingen in das allerletzte, allerseligste, allerklarste, allerkraftvollste Genesen. Und in diesem funkelnden, lechzenden Rausch verwechselt er allmählich seinen rasenden Willen zur Gesundheit mit der Gesundheit selbst, sein Fieber mit Vitalität, seinen Untergangstaumel mit errungener Kraft. Gesundheit! Gesundheit! – wie ein Panier schwenkt der von sich selber Trunkene das Wort über sich her: sie soll der Sinn der Welt sein, das Ziel des Lebens, das Maß aller Dinge, sie allein der Pegel aller Werte; und der selbst von Qual zu Qual im Dunkel jahrzehntelang getappt, überschreit sich nun in einem Hymnus der Vitalität, der brutalen, machttrunkenen Kraft. Ungeheuer, mit brennenden Farben, entrollt er die Fahne des Willens zur Macht, des Willens zum Leben, zur Härte, zur Grausamkeit, und trägt sie ekstatisch einer kommenden Menschheit voran – ahnungslos, daß die Kraft, die ihn beseelt, das Panier so hoch zu halten, dieselbe ist, die gleichzeitig den Bogen spannt mit dem für ihn tödlichen Pfeil.

      Denn diese letzte Gesundheit Nietzsches, die sich selbst im Überschwang zum Dithyrambus hinaufstimuliert, ist eine Autosuggestion, eine »erfundene« Gesundheit. Gerade wie er die Hände jubilierend zum Himmel hebt im Rausche seiner Kraft, wie er im Ecce homo die Worte hinschreibt von seiner großen Gesundheit und beeidet, nie krank, nie dekadent gewesen zu sein, zuckt schon der Blitz in seinem Blut. Was in ihm lobsingt, was in ihm triumphiert, ist nicht das Leben, sondern schon sein Tod. Was er für Licht hält, für die Hochglut seiner Kraft, birgt gerade den tödlichen Ansprung seiner Krankheit, und jenes wunderbare Wohlgefühl, das ihn in den letzten Stunden überströmt, diagnostiziert der klinische Blick jedes Arztes heute klar für die Euphorie, das typische Wohlbefinden vor dem Zusammenbruch. Schon von anderer, von dämonischer, von jenseits-weltlicher Sphäre zittert ihm die silberne Helligkeit entgegen, die seine letzten Stunden überflutet: er aber, der Trunkene, er weiß es nicht mehr. Er fühlt sich nur überschüttet von allem Glanz, aller Gnade der Erde: die Gedanken glühen ihm feurig zu, die Sprache quillt mit Urgewalt aus allen Poren seiner Rede, Musik überflutet ihm die Seele. Wohin er blickt, strahlt ihn Friede an – die Menschen auf der Straße lächeln ihm zu, jeder Brief ist eine Botschaft mit göttlichem Inhalt, und taumelnd vor Glück ruft er dem Freunde Peter Gast in seinem letzten Schreiben zu: »Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich.« Eben aus diesem verklärten Himmel trifft ihn der feurige Strahl, Leiden und Seligkeit in eine einzige unlösbare Sekunde verschmelzend. Beide Enden des Gefühls bohren sich ihm gleichzeitig in die aufgebäumte Brust, und in seinen zerspringenden Schläfen rauscht das Blut Tod und Leben zusammen in eine einzige apokalyptische Musik.

      Der Don Juan der Erkenntnis

       Inhaltsverzeichnis

       Auf die ewige Lebendigkeit kommt es an, nicht auf das ewige Leben.

      Immanuel Kant lebt mit der Erkenntnis wie mit einem ehelich angetrauten Weibe,

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