Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
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Nietzsches Leidenschaft zur Erkenntnis dagegen kommt aus ganz anderem Temperament, aus einer geradezu antipodischen Welt des Gefühls. Seine Einstellung zur Wahrheit ist eine durchaus dämonische, eine zitternde atemheiße, nervengejagte, neugierige Lust, die sich nie befriedigt und nie erschöpft, die nirgends stehenbleibt bei einem Resultat und über alle Antworten hin sich immer wieder ungeduldig und unbändig weiterfragt. Niemals zieht er eine Erkenntnis dauernd an sich und macht sie mit Eid und Treuschwur zu seinem Weibe, zu seinem »System«, zu seiner »Lehre«. Alle reizen ihn an, und keine kann ihn halten. Sobald ein Problem die Jungfräulichkeit, den Reiz und das Geheimnis der erbrochenen Scham verloren hat, läßt er es mitleidslos, eifersuchtslos den andern nach ihm, so wie Don Juan, sein Bruder im Triebe, seine mille e tre, ohne sich weiter um sie zu bekümmern. Denn wie jeder große Verführer durch alle Frauen hindurch die Frau, so sucht Nietzsche durch alle Erkenntnis hindurch die Erkenntnis, die ewig irreale und nie ganz erreichbare; ihn reizt bis zum Schmerz, bis zur Verzweiflung nicht das Erobern, nicht das Halten und Haben, sondern immer nur das Fragen, das Suchen und Jagen. Unsicherheit, nicht Gewißheit ist seine Liebe – Erkenntnis im Sinne der Bibel, wo der Mann das Weib »erkennt« und damit gleichsam geheimnislos macht. Er weiß, der ewige Relativist der Werte, daß keiner dieser Erkenntnisakte, dieser Besitzergreifungen mit heißem Geist schon ein wirkliches »Zu-Ende-Kennen« ist, daß sich Wahrheit im letzten Sinn nicht besitzen läßt: denn »wer da empfindet, ich bin im Besitz der Wahrheit, wie vieles läßt der nicht fahren«. Darum richtet sich Nietzsche niemals haushälterisch ein im Sinne des Sparens und Bewahrens und baut kein geistiges Haus: er will – oder er muß vielmehr aus dem nomadischen Zwang seiner Natur – der ewig Besitzlose bleiben, der nicht Dach hat und Weib und Kind und Gesind, aber dafür die Lust und die Freude der Jagd: er liebt gleich Don Juan nicht die Dauer des Gefühls, sondern die »großen und verzückten Augenblicke«, ihn locken einzig die Abenteuer des Geistes, jene »gefährlichen Vielleichts«, die heiß machen und anspornen, solange man sie jagt, und nicht satt machen, sobald man sie greift – er will keine Beute, sondern (wie er sich selbst im Don Juan der Erkenntnis schildert) nur den »Geist, Kitzel und Genuß an Jagd und Intriguen der Erkenntnis – bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntnis hinauf –, bis ihm zuletzt nichts mehr zu erjagen übrigbleibt als das absolut Wehetuende der Erkenntnis, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und – Scheidewasser trinkt«.
Denn der Don Juan im Geiste Nietzsches ist kein Epikureer, kein üppiger Genießer: dazu fehlt diesem Aristokraten, diesem feinnervigen Edelmann das dumpfe Behagen des Verdauens, das träge Ausruhen in der Sattheit, das Prahlen mit seinen Triumphen, das jemals Zufriedensein. Der Jäger der Frauen ist – wie der Nimrod des Geistes – selbst der ewig Gejagte eines unstillbaren Triebes, der rücksichtslose Verführer selbst ein Verführter seiner brennenden Neugier, ein Versucher, der versucht ist, alle Frauen in ihrer unerkannten Unschuld immer wieder zu versuchen, so wie Nietzsche fragt um der Frage willen, um der unstillbaren psychologischen Lust. Für Don Juan ist das Geheimnis in allen und in keiner, in jeder für eine Nacht und in keiner für immer: genauso für den Psychologen die Wahrheit in allen Problemen für einen Augenblick und in keinem für immer.
Darum ist Nietzsches geistiges Leben so ganz ohne Ruhepunkte, ohne stille spiegelnde Flächen: es ist durchaus stromhaft, wanderhaft, voll plötzlicher Umwendungen, Kehren und Stromschnellen. Bei den andern deutschen Philosophen geht ihr Dasein episch-gemächlich dahin, ihre Philosophie stellt das behaglich-handwerkliche Fortspinnen eines einmal entwirrten Fadens dar, sie philosophieren gleichsam seßhaft, mit entspannten Gliedern, und kaum spürt man während ihres Denkaktes einen gesteigerten Blutdruck im Körper, ein Fieber in ihrem Schicksal. Niemals hat man bei Kant jene erschütternde Empfindung eines von seinen Gedanken vampirisch gefaßten, eines an der Schöpfung und Gestaltung als einem entsetzlichen Muß leidenden Geistes: und Schopenhauers Leben vom dreißigsten Jahr an, sobald er »Die Welt als Wille und Vorstellung« einmal vollendet hat, trägt einen pensionistisch-behaglichen Zug mit allen kleinen Verbitterungen des Stehengebliebenen. Sie alle gehen mit gutem, festem, klarem Schritt vorwärts einen selbstgewählten Weg, indes Nietzsche immer gejagt erscheint und immer in ein ihm selbst Unbekanntes hinein. Darum gestaltet sich Nietzsches Erkenntnisgeschichte (wie die Abenteuer Don Juans) durchaus dramatisch, eine Kette gefährlicher, überraschender Episoden, eine Tragödie, die vollkommen pausenlos in unablässiger zuckender Erregung von einer Peripetie zur nächsten höheren überspringt, um dann schließlich bei dem unvermeidlichen Absturz ins Bodenlose zu zerschmettern. Und gerade dies Ruhelose im Suchen, dies unablässig Denken-Müssen, der dämonische Zwang zum Vorwärts gibt dieser einzigen Existenz eine unerhörte Tragik und macht sie (durch die totale Abwesenheit jedes handwerklichen, jedes bürgerlich gelassenen Zuges) uns so verlockend als Kunstwerk. Nietzsche ist verflucht, ist verurteilt zum unablässigen Denken, wie der Wilde Jäger im Märchen zur ewigen Jagd: was seine Lust war, ist seine Qual, seine Not geworden, und sein Atem, sein Stil hat das Springende, Heiße, Pochende eines Gehetzten, seine Seele das Lechzende, Verschmachtende eines nie ausruhenden, eines nie befriedeten Menschen: »Man gewinnt etwas lieb, und kaum ist es einem vom Grunde lieb geworden, so sagt der Tyrann in uns (den wir sogar unser höheres Selbst nennen möchten): Gerade das gib mir zum Opfer. Und wir geben es auch, aber es ist Tierquälerei dabei und Verbranntsein mit langsamem Feuer.« Und wie Aufschrei flüchtenden, vom Pfeil getroffenen Wildes klingt es gell, wenn Nietzsche, der zum Erkennen Getriebene, der Ruhelose, aufschreit: »Es gibt überall Gärten Armidens für mich und daher immer neues Losreißen und neue Bitterkeiten des Herzens. Ich muß den Fuß heben, den müden, verwundeten Fuß, und weil ich muß, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick – weil es mich nicht halten konnte!«
Solche Schreie von innen, solch urmächtiges Aufstöhnen aus der letzten Tiefe des Leidens vermißt man vollkommen in alldem, was sich vor Nietzsche in Deutschland Philosophie genannt hat: bei den mittelalterlichen Mystikern vielleicht, bei den Häretikern und Heiligen der Gotik bricht manchmal ähnliche Schmerzensinbrunst durch dunkelgewandetes Wort. Pascal, auch einer, der mit der ganzen Seele im Fegefeuer des Zweifels steht, kennt diese Aufgewühltheit, diese Zernichtung der suchenden Seele, niemals aber, weder bei Leibniz, noch bei Kant, Hegel und Schopenhauer, erschüttert uns dieser elementare Ton. Denn so rechtlich diese wissenschaftlichen Naturen auch sind, so tapfer, so entschlossen ihre Anspannung auf das Ganze wirkt – sie werfen sich doch nicht dermaßen mit ihrem ganzen ungeteilten Wesen, mit Herz und Eingeweiden und Nerven und Fleisch, mit ihrem ganzen Schicksal in das heroische Spiel um die Erkenntnis. Sie brennen immer nur so, wie Kerzen brennen, nur oben, nur zu Häupten, nur mit dem Geist. Ein Teil, der weltliche, der private und damit auch das Persönlichste ihrer Existenz, bleibt immer schicksalsgesichert, indes Nietzsche sich voll und ganz riskiert, er, der sich unaufhörlich nicht »bloß mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens«, sondern mit der ganzen Wucht seines Schicksals in die Gefahr wirft. Seine Gedanken kommen nicht bloß von oben, aus dem Gehirn, sondern sind herausgefiebert aus einem gehetzten, aufgestachelten Blute, aus zitternd gereizten Nerven, aus unersättlichen Sinnen, aus dem ganzen Zusammenfassen des Lebensgefühls: darum ballen seine Erkenntnisse wie jene Pascals sich »zu einer leidenschaftlichen Seelengeschichte« tragisch