Die Eimannfrau. Erich Wimmer
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Читать онлайн книгу Die Eimannfrau - Erich Wimmer страница 10
«Es ist eine Äsche!», zischt Pergynti voller Entzücken, weil er den Fisch mittlerweile auf wenige Meter an sich herangeführt hat.
«Brüno!», tönt es noch näher als beim ersten Mal.
«Dein Frauchen ruft», flüstere ich und nicke Brüno aufmunternd zu, mit einem verbissenen Grinsen, das er, wenn er nur halbwegs bei Birne ist, als Startschuss für einen möglichst beschleunigten Abgang interpretieren könnte. Brüno, soviel ist spürbar, gerät tatsächlich in einen moralischen Konflikt. Draußen vor der dürren Hecke bewegt sich die Silhouette seiner ahnungslosen Ernährerin auf uns zu, aber hier drinnen am Fluss ist es auch ganz nett. Da befinden sich seine beiden neuen Freunde bei ihrer hochinteressanten Tätigkeit.
«Gleich hab ich sie», mümmelt Pergynti.
Viel zu lange, denke ich. Bis er den Fisch heranführt, mit der Hand fixiert, abschlägt, vom Haken befreit, irgendwo am Ufer versteckt und das Handzeug verstaut, kann Brünos Besitzerin nicht nur ein Foto von uns machen, sondern eine Staffelei aufstellen und uns mit Ölfarben verewigen.
Ich schnappe mir einen in Armgriffweite liegenden Ast, mit dem ich Brüno winke.
«Da schau, Brüno», wispere ich, «was für ein feines Stöckchen. Sieht aus wie eine Salami. Und wie gut und weit die fliegen kann, oho, oho!»
Von der Fichte weg trabe ich am Ufer entlang flussabwärts. Hoffentlich erkennt Brüno diese Einladung als Chance auch sich und seinen dynamischen Hundekörper fortzubewegen. Ungefähr zweihundert Meter vom Ausgangspunkt entfernt, trete ich aus dem Wald auf den Gehweg hinaus und nestle dezent an meiner Jacke. Aufmerksame Wanderwegbenutzer könnten aus dieser Geste lesen, dass ich einem natürlichen Bedürfnis folgend im Wald verschwunden war und jetzt meinen Spaziergang fortzusetzen gedenke. Als ich es endlich wage, meinen Blick zu heben und dorthin zu lenken, wo Brüno im Wäldchen Richtung Fluss verschwunden war, sehe ich, dass er mitten am Gehweg vor seinem Frauchen sitzt und eine pädagogische Nachschulung erhält. Was sie sagt, kann ich nicht verstehen, aber an der nachdrücklichen Art und Weise, wie sie es ihm mit erhobenem Zeigfinger eintrichtert, wird mir klar, dass es sich erstens um ernste Worte handelt und dass er zweitens eine durchaus harsche Verhaltensanweisung erhält.
«Ja, böser Brüno», denke ich zustimmend, «horch genau zu und überleg dir in Zukunft, wen du ankläffst und wie lang du Maulaffen feilhältst, wenn andere tragische Figuren mit heruntergelassener Hose vor dir stehen.»
Während Brüno und sein Frauchen sich wieder in Bewegung setzen, zischt ein junger Mann mit dem Rad vorbei. Der macht mir keine Sorgen. Von Radfahrern geht wenig Gefahr aus. Sie sind zu schnell, zu verbissen, zu fokussiert. Vom Velo aus verdünnt sich die Wirklichkeit zur Kontur einer endlosen Schlange. Nur die Fußgängerwahrheit bietet genug Weite und Gegenwart, um auch ganz besonders heimlichen Kriechern wie Pergynti und mir auf die Spur zu kommen.
Brüno und sein Frauchen marschieren in meine Richtung. Ich gehe ihnen voraus, wobei ich meine Schritte langsam und unauffällig beschleunige. Nach ein paar hundert Metern kommt eine kleine Brücke, die ich überquere, bevor ich auf der anderen Flussseite in den Wald eintrete. Dort bewege ich mich auf einem Forstweg wieder flussaufwärts, zurück ins Einsatzgebiet.
Nachdem ich die Höhe meines Ausgangspunktes erreicht habe, betrete ich eine Fichtenmonokultur. Aus dem Halbschatten, verborgen hinter den Baumstämmen, spähe ich über den Fluss und beobachte Pergynti. In seiner Fokussiertheit bemerkt er nicht, wie ich seine Handgriffe betrachte, seine ungebrochene Emsigkeit, seinen unbeugsamen Willen, diesem Moment alles abzutrotzen, ihn bis auf den letzten Tropfen zu melken.
Im Gegensatz zu mir hat er im Lauf der heutigen Aktion so gut wie kein Adrenalin verbraucht. Die drei Fische, die Pergynti bis jetzt gefangen hat, einer Speise, die beiden anderen deutlich kleiner, reichen für ihn und mich als Abendessen. Oder für Jesus als Basis für ein kleines Wunder. Sie reichen aber mitnichten für den Wolf in Pergynti, der noch unbedingt sein Rudel in Zürich versorgen möchte. Dazu gehören Irina, Pergyntis Frau, und Eos, seine jüngste Tochter. Im Gegensatz zu den beiden erwachsenen Töchtern, die in Österreich leben, geht Eos noch zur Schule. Sie hat viel von Pergyntis Klugheit geerbt, braucht aber dennoch ständig Nachhilfelehrer, die ihr dabei helfen, im Wahnsinn der besten Zürcher Mittelschule am Ball zu bleiben. Bei unserem letzten Gespräch hat Irina die teilweise unkindlichen Anforderungen des schweizerischen Schulbetriebs ausführlich kritisiert, auch um mir zu erklären, warum einer von Eos’ Mitschülern Selbstmord begangen hat. Im Alter von dreizehn Jahren. Eos selbst sei in dieser Hinsicht nicht gefährdet, dafür wäre ihr psychisches Korsett zu stabil. Aber, würden die Nachhilfelehrer nicht ständig mit ihr lernen, dann müsste Eos diese Eliteschule zweifellos aufgeben. Im Gegensatz zu seinen Kindern kann Pergynti mit Druck umgehen. Sonst wäre er nie an die Spitze der wissenschaftlichen Rankings vorgestoßen. Das inkludierte vierzehnstündige Arbeitstage sechs Mal in der Woche nebst Familiensonntagen, die er tapfer durchlächelte, indem er dem kindlichen Um-ihn-herum-Gehopse gutmütige Blicke aus Augen zu schenken versuchte, die sich vor lauter Müdigkeit zu Schlitzen verengten. Gelesen hat er, wenn überhaupt, nur im Flugzeug. Ab und zu ein paar Krimis, bevor er im Sitzen eingeschlafen ist.
Jetzt unterrichtet er Technische Mathematik und Physik an der ETH in Zürich. Dort weiß niemand, dass er eigentlich Pergynti heißt. Alle kennen ihn nur unter seinem bürgerlichen Namen Harald Warbach. Dieses monotone Vierfach-a in seinem bürgerlichen Namen erschien mir schon vor vierzig Jahren als fade, phonetische Gerade und völlig ungeeignet, um diese manische Unruhe abzubilden, mit der er damals von einer Aktivität zur anderen sprang. Sammelte ich ein paar Käfer für das Schulfach Zoologie, dann besah er sich die Sache kurz und stürmte, nachdem er sie gutgeheißen hatte, sofort ans Landesmuseum. Dort trat er der entomologischen Arbeitsgemeinschaft bei und überschwemmte die alten, gleichermaßen erfreuten wie fassungslosen Professoren mit seiner Energie. Er brachte die ehrwürdige Sammlung auf Vordermann und um ihre schönsten Käfer-Exemplare. Spielte ich so nebenbei Geige, dann fing Pergynti mit Gitarre an. Noch vor seiner Pubertät saß er acht bis zehn Stunden am Tag an der teuersten Konzertgitarre, die ihm sein Vater sofort nach der Aufnahme ins Konservatorium gekauft hatte. Pergynti spielte nicht einfach, er zerfetzte die Saiten auf der Suche nach einem Ersatz für die Zuneigung, die ihm seine Workaholic-Eltern vorenthalten mussten, weil sie damit beschäftigt waren Stiere zu schlachten, in Stückchen zu zerlegen und als Steaks und Schnitzel zu verkaufen. Pergynti war der erste Sohn des ersten Fleischhauers am Stadtplatz einer Linzer Satellitenstadt. Der war klug genug, seinem Filius keine Wurst in die Wiege zu legen. Pergynti konnte lernen, was er wollte, solange er nur viel lernte. Und er lernte nicht nur viel, er stopfte die Welt regelrecht in sich hinein. Damals war ich zwölf Jahre alt und er neun.
In den Jahrzehnten, die seither vergangen sind, versuchte jeder von uns auf seine Weise dem Leben ein Maximum an Erfolg abzupressen. Um so viel zu verdienen, wie er das jetzt tut, zahlte Pergynti einen hohen Preis. Er verwandelte sich in einen derjenigen Uni-Professoren, die ihr Nischenwissen für das zentrale Menschheitswissen halten und es an den Bestbieter verkaufen. Dafür begegnet er dem Rest der Welt mit einem nachsichtigen Lächeln, unter dem sich das schadenfrohe Mitgefühl über die intellektuelle Kleinheit der Zurückgebliebenen nur selektiv verbirgt. Dass ich nur an einer Provinz-Musikschule kleine Kinder von unbedeutenden Leuten unterrichte, fand Pergynti schon immer irgendwie rührig. Aber richtig glücklich hat ihn erst meine Erfolglosigkeit als Dichter gemacht.
«Siehst du», sagt er manchmal, wenn eine winzige Rezension eines meiner Bücher in irgendeinem Lokalblatt erscheint, «jetzt hast du auch ein Körnchen gefunden.»
Dann klopft er mir sogar auf die Schulter und lässt einen Blick losfliegen, der von der unfassbaren Höhe seiner globalen wissenschaftlichen Vorrangstellung hinuntersegelt bis ins Flachland,