Die Eimannfrau. Erich Wimmer
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«Wie hat er Sie denn verdrängt?», fordert der Kassier eine Präzisierung.
«Er hat mir alle Bilder und Zeichnungen weggenommen, die ich als Jugendlicher gemalt habe», entberge ich dieses private Geheimnis. «Er hat sie alle konfisziert und so versteckt, dass ich sie nicht mehr finden konnte.»
«Warum?», fragt er weiter.
«Das habe ich meine Mutter auch gefragt», antworte ich. «Sie hat mir seine Übergriffe damit erklärt, dass es in ihm arbeitet. Mit dieser Formulierung konnte ich lange Zeit nichts anfangen. Also habe ich immer wieder nachgefragt, was das ist, das in meinem Vater arbeitet. Irgendwann hat meine Mutter endlich Farbe bekannt und gesagt, der Krieg. Hitler hat meinen Vater noch als Siebzehnjährigen an die Front nach Afrika geschickt. Dort hat er als einziger seines Bataillons überlebt. Nach seiner Rückkehr war er nur noch äußerlich ein Mensch. In seinem Inneren ist er lebenslang ein Soldat geblieben und hat weiter gekämpft.»
«Wogegen genau?», wirft die strenge Rätin konzentriert ein.
«Gegen die Idee», antworte ich, «dass das Leben auch schön sein kann. Mein Vater hat nichts so sehr bekämpft wie die Lebensfreude in all ihren Erscheinungsformen.»
«Warum?»
«Weil Lebensfreude in seiner Erfahrung die größtmögliche Lüge war. Wo immer sich Anzeichen dieser Lüge gezeigt haben, ist der Krieger in ihm erwacht. Und dieser Krieger war unerbittlich. Besonders gegenüber seiner Frau und seinem Sohn. Er hat mir das Malen ausgetrieben. Im Geheimen habe ich dann angefangen zu schreiben. Das war leichter vor ihm zu verbergen.»
«Also ist Schreiben nur eine Notlösung für Sie?», fragt die Direktorin.
«Am Anfang war es das bestimmt», gebe ich zu. «Als junger Mensch bin ich stundenlang vor den Prachtbildbänden in unserer Bibliothek gesessen … Picasso, Beckmann, Ensor, Matisse und Wölfli … Ich habe mich auf ihre Bilder gestürzt wie auf Rettungsinseln. Ihre Werke waren meine Verstecke und gleichzeitig eine Verheißung.»
«Verstecken Sie sich noch immer vor Ihrem Vater?», fragt der Präsident.
«Ja und nein», antworte ich, «er ist vor zwei Jahren gestorben.»
Der Präsident hebt seinen Kopf noch eine Spur höher, dann fährt er fort.
«Haben Sie nach seinem Tod nicht erwogen Maler zu werden?»
«Erwogen schon. Aber so viel neue Freiheit auf einmal hat mich völlig überfordert. Statt endlich zu malen, habe ich mir andere Überväter gesucht, denen gegenüber ich meine alten Verhaltensmuster beibehalten kann. Leider.»
«Und Ihre Mutter», fragt die besonders strenge Rätin zum ersten Mal nicht fordernd, sondern mit einem spürbar neuen, milderen Ton, «hilft Sie Ihnen nicht bei diesem Erneuerungsprozess?»
Ich schüttle den Kopf.
«Nein. Sie kann sich nicht einmal selber helfen. Ich liebe meine Mutter. Aber ich hasse ihre Unterwürfigkeit, ihren vorauseilenden Gehorsam, den sie durch ihre sklavische Existenz so abgrundtief in mir verankert hat. Mein Vater hat meiner Mutter und mir immer die Welt erklärt und uns ganz genau gesagt, was richtig und was falsch ist. Und jetzt, wo er nicht mehr da ist, suche ich mir sofort andere Diktatoren, die mich anleiten und mir sagen, wo es langgeht und was richtig ist.»
«Wen zum Beispiel?», fragt der jüngste Rat.
«Das Smartphone ist so ein Kandidat», antworte ich. «Würde ich es in meine Nähe lassen, dann würde es mir, so wie mein verstorbener Vater, permanent diktieren, wie ich die Dinge zu sehen habe. Nämlich nach Maßgabe seiner Bilder, der Bilder, die auf seinem Display erscheinen. Aber ich habe es so unendlich satt, fremdbestimmt zu werden, dass ich es, um frei zu sein, sogar in Kauf nehme, bei einem Unfall kein Handy dabei zu haben. Ich träume von einer Freiheit, die mir gegenüber dem System die Wahl lässt, nicht innerhalb seiner Normen. Ich will auch nicht alles, was ich esse, im Supermarkt oder im Restaurant kaufen müssen. Deshalb fische ich, seit ich alleine in Gummistiefeln stehen kann. Zwischen mir und dem selbstgefangenen Fisch gibt es keinen Importeur, keinen Händler, keinen LKW, keinen Tiefkühlregaleinräumer und keine Kassiermaschine. Zwischen mir und der Bachforelle gibt es keine Vorschriften, Regeln und Befehle, nur den Rausch der unmittelbaren Begegnung.»
«Würden Sie hier in der Schweiz von dieser Freiheit gegenüber dem System schreiben?», fragt die Direktorin.
«Auf jeden Fall», antworte ich, «das versuche ich immer. Aber oft, wenn ich die Worte dann unten am Papier sehe, bekomme ich Angst und lösche sie wieder.»
«Angst wovor?», möchte der Präsident wissen.
«Vor dem Zerbrechen meiner Freundschaften», antworte ich. «Ich schreibe verhältnismäßig oft über meine Freunde, weil ich sie am besten kenne und an ihnen von außen sehen kann, was ich an mir selbst nicht oder weniger gut bemerke. Dabei gerate ich in ein furchtbares Dilemma. Wenn ich sie idealisiere, dann ist der Text uninteressant, reines Geplänkel. Meine Freunde sind nur auf bestimmten, mehr oder weniger großen Terrains meine Freunde. Es gibt genug Bereiche, wo ich keine Schnittmengen mit ihnen finde und eine schauerliche Fremdheit zwischen uns spürbar wird. Indem ich darüber schreibe, sehe ich plötzlich, wo wir uns tatsächlich berühren, verstehen und wertschätzen können und wo die Grenzen sind, an denen wir einander fremd werden und das Verständnis füreinander anfängt zu bröckeln.»
«Haben Sie aufgrund eines Textes schon einmal einen Freund verloren?», fragt mich die Sekretärin.
«Ja, eine Freundin», gebe ich zu. «In meinem zweiten Roman Grün wie Schnee habe ich über sie und Ihren Vater geschrieben. Natürlich in verklausulierter Form, ohne Klarnamen. Aber meine Freundin war entsetzt. Sie hat mir vorgeworfen sie und ihre Familie öffentlich an den Pranger zu stellen. Sie aber liebe ihren Vater und mich nicht mehr. Obwohl sich von dem Buch wie von allen meinen Büchern nur ein paar Exemplare verkauft haben, unterstellte sie mir, ich hätte mit meinem Text die gesamte Weltöffentlichkeit über ihre Familie informiert. Das hat sie dann dazu veranlasst, mit mir zu brechen. Seit dieser Zeit habe ich oft darüber nachgedacht, ob meine Wahrhaftigkeit diesen Preis wert war.»
«Und», ergänzt die besonders strenge Dame beinahe zärtlich, «war es das?»
«Ich weiß es nicht», räume ich ein, «ich weiß es wirklich nicht und werde es wahrscheinlich nie wissen. Darin besteht ja das Dilemma, das mich immer wieder umtreibt, besonders aber beim Schreiben.»
«Und an welchen Texten würden Sie hier konkret arbeiten?», möchte die etwas weniger strenge Dame noch wissen. Auch ihre Stimme kommt mir spürbar aufgetauter vor.
«An meinem zweiten Krimi», antworte ich, «und einem Schweizer Tagebuch. Ich kenne dieses Land nur aus zwei Quellen. Aus den üblichen Klischees und aus dem Comic Asterix in der Schweiz. Sollte ich hier arbeiten dürfen, würde ich versuchen, mein eigenes Schweizbild zu entwerfen.»
Der Präsident nickt mir gemessen zu, lässt seinen Blick in die Runde schweifen und gibt sich schließlich einen Ruck. «Hat noch jemand eine Frage an den Kandidaten?»
Niemand äußerst sich mehr. Ein paar Stiftungsräte beenden sogar den Kontakt mit dem