Die Eimannfrau. Erich Wimmer

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Die Eimannfrau - Erich Wimmer

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Platz haben?

      Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass Kindergärten in der Schweiz einen familiären Charakter haben, oft in Privathäusern untergebracht sind und selten von mehr als zehn bis fünfzehn Kindern besucht werden. Außerdem bin ich jetzt noch nervöser geworden und wie immer in solchen Momenten Opfer meines Selbstwertmangels, der einen seiner ganz großen Auftritte hat und mich gnadenlos weiterscheucht zu einem imaginären anderen Haus, das auf jeden Fall heller, leuchtender, einladender und vor allem moderner sein muss.

      Nach einer kleinen Wanderung entlang der Hauptstraße erreiche ich einen Coiffeur-Salon. Der einzige im Moment aktive Coiffeur, ein junger, schwarzhaariger Bursche, hört sofort auf sich um seinen Kunden zu kümmern und starrt mich durch das Schaufenster an. Das Wort Coiffeur, besonders wenn es in leuchtenden Großbuchstaben über einem Geschäftseingang prangt, erinnert mich immer an Worte, die mit Koi- anfangen. Koi-Karpfen zum Beispiel, oder Koinzidenz. Der Coiffeur, sein Kunde und ein paar andere junge Männer, die alle noch auf ihre frisürliche Behandlung warten, fixieren mich durch das Glasquadrat des Studios, als hätten mich soeben ein paar Klingonen mit ihrem Ufo direkt vor ihren Augen abgesetzt. Notgedrungen starre ich zurück. Dabei fällt mir auf, dass alle mit der gleichen Frisur gesegnet sind. Kleinfingerlange, steil in den Himmel ragende Haare, grauschwarzglänzend wie verkohlte Fichtenstämme nach einem Waldbrand, dessen Einzugsgebiet teilweise von kahlen Schneisen durchzogen ist. In einer Vision sehe ich auf diesen Schneisen Lastautos fahren, die das gefällte Holz der Haarwaldbesitzer ebenso abtransportierten wie die verschmorten Bruchstücke ihrer bereits geschleuderten Gedankenblitze.

      «Grüezi!», rufe ich auch hier frisch und zuversichtlich direkt in die durch die Glasspiegelungen etwas verschleierten Gesichter und versuche, die wechselseitige Schrecksekunde mit einem netten Zunicken zu entschärfen. Auf ihre Weise sind das bestimmt freundliche Burschen. Aber meine Erscheinung im Allgemeinen und meine Haare im Besonderen bringen sie bis ganz an den Rand ihres Fassungsvermögens. Deshalb trete ich von meinem Plan zurück, auch sie nach der Villa zu fragen. Das stumme Entsetzen der Männer hat mein volles Verständnis. Im krassen Gegensatz zu ihren Haaren sehen meine aus wie zwei flachsbraune Gästepantoffeln, von denen der kleine, verkümmerte seitlich und der größere zentral auf meinem Kopf kleben, als hätte man sie dort mit besonders zäher Lamaspucke fixiert. So ein Anblick will erst einmal verarbeitet sein. Außerdem offenbart mein Seitenscheitel wortlos die Wertigkeit, die Haarmode für mich hat und die ungefähr auf einer Ebene mit einer Darmspiegelung angesiedelt ist. Die Idee, Haare als fulminanten Auftakt zu einer persönlichen Symphonie zu inszenieren, ist aus meinen beiden Bälgen mit einer Intensität verschwunden, welche die Jungs mit einer bis auf die Straße heraus spürbaren Beklemmung erfüllt.

      Der nächste Mensch, dem ich ein paar dutzend Meter weiter begegne, ist eine Frau, die in einem Wohnwagen lebt, an dessen Dachvorsprung sie altes Papier zum Trocknen aufgehängt hat. Jedenfalls kommt es mir aus der Entfernung so vor. Erst als ich näher herantrete, erkenne ich, dass es sich bei dem Papier um Zeitungen handelt, die gar nicht alt sind und auch nicht getrocknet, sondern gekauft werden können. Vor mir befindet sich ein fahrbarer Zeitungs- und Tabakkiosk. Laut grüßend wende ich mich an die kraterartige Verkaufsnische, in der die Händlerin verschwunden ist wie eine Robbe in einem Eisloch beim Auftauchen eines Eisbären.

      «Entschuldigung. Könnten Sie mir bitte sagen, wo sich die Villa von Frau Lydia Eymann befindet? Laut meinem Plan müsste sie hier irgendwo in der Gegend sein.»

      Zuerst passiert gar nichts. Dann erhebt sich eine Stimme aus dem diffusen Halbdunkel zwischen den Zeitschriften und Zigarettenpackungen.

      «Da sind Sie schon vorbeigegangen. Sie müssen wieder zurückgehen. Das Haus, das Sie suchen, liegt direkt am Kreisverkehr.»

      «Meinen Sie etwa das alte Haus mit dem himmelhohen Dach?»

      «Ja, genau, das ist es.»

      «Sind Sie sicher?»

      Das Gesicht der Frau taucht zum ersten Mal so aus der Nische, dass ich es erkennen kann. Sie lächelt buddhamild wie der blinde Meister Po, wenn seinem Schüler Kwai Chang Caine, den er nicht umsonst Grünschnabel nennt, eine besonders infantile Frage gelungen war.

      «Ich bin absolut sicher. Schließlich bin ich hier aufgewachsen und kenne meine Nachbarschaft.»

      «Das bezweifle ich nicht», sage ich, «aber wissen Sie, ich habe mir das Haus total anders vorgestellt.»

      «Was wollen Sie denn dort?»

      Ja, das frage ich mich auch. Mittlerweile bin ich so gesättigt mit Hoffnungslosigkeit, dass ich den Sinn meiner Bemühungen nicht mehr erkennen kann.

      «Ich habe einen Vorsprechtermin», weihe ich die Kiosk-Frau in die näheren Umstände meiner Nahzukunft ein.

      «Ah, ich verstehe. Dann sind Sie also einer von den Kandidaten.»

      «Genau.»

      «Da wünsch ich Ihnen aber viel Glück.»

      «Herzlichen Dank. Das kann ich brauchen.»

       Schatztaucher

      «Mich besitzt noch kein Handy», verkünde ich vor dem Gremium und bereue es sofort. Um den Preis einer halblustigen Bemerkung habe ich sieben ehrwürdigen Schweizern indirekt erklärt, dass sie im Gegensatz zu mir alle am Gängelband ihrer Mobiltelefone hängen.

      «Wäre das ein Problem?», füge ich verlegen an.

      Niemand antwortet. Alle blicken hinüber zum Präsidenten der Stiftung. Er sitzt am Ende des langen Tisches, rückt seinen Oberkörper zurecht und atmet tief ein. Warum hört er gar nicht mehr auf, Luft zu holen? War meine Frage wirklich so betrüblich, dass er jetzt besonders viel Sauerstoff braucht? Oder ist er in seiner Freizeit Apnoe-Taucher, der hier für einen Abstieg in den Zürcher See trainiert, um sagenhafte Schätze zu bergen?

      «Nicht unbedingt», versichert er uns.

      Immerhin schmunzeln zwei der vier anwesenden Frauen über meinen Handyspruch. Besonders die Sekretärin scheint ehrlich amüsiert. Ihre Lächler perlen wie Sektbläschen durch die angespannte Sphäre des Hearings. Vor zwei Wochen hat sie mich in Österreich angerufen und über den Ablauf des Auswahlverfahrens informiert. Und heute, gleich nach meiner Ankunft in der Villa, überreichte sie mir wortlos den Fahrtkostenzuschuss. Das neutrale Kuvert steckt jetzt in der Innentasche meines Sakkos und fühlt sich an wie ein Trostpflaster für diejenigen Kandidaten, die sich mit ihrem vorlauten Mundwerk um die Chance ihres Lebens reden.

      «Kehren wir doch die Befragung einmal um», schlägt der Kassier vor. Um Punkt Elf, zu Beginn der Sitzung vor etwa einer halben Stunde, wurden mir alle Stiftungsräte vorgestellt. Ihre Namen konnte ich mir nicht merken. Nur ihre Funktionen habe ich halbwegs im Gedächtnis behalten. Es gibt einen Präsidenten, eine Sekretärin, einen Kassier und die einfachen Mitglieder des Rates: die Direktorin eines Gymnasiums, einen vergleichsweise jungen Stiftungsrat, eine ernste ältere Dame sowie eine sehr ernste ältere Dame. Ihr Blick ist gerade noch nicht grimmig, aber auf eine unheimliche Weise objektiv. Wenn sie mich ansieht, wird mir sofort klar: Hier und jetzt zählt Leistung – mit einer spontanen Gegenübertragung brauche ich nicht zu rechnen.

      Der Kassier verschränkt seine Finger und schiebt sie wie einen kleinen Pflug Richtung Tischmitte. Das edle Holz fungiert als geheime Energieladestation. Durch die Reibung strömt den Reibern neue Kraft in die Venen. Auch die anderen Ratsmitglieder berühren die fein geschliffene Platte mit ihren Fingern und Unterarmen. Nur ich hocke im Respektabstand neben

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