Die Eimannfrau. Erich Wimmer
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«Was würden Sie gerne von uns wissen? Haben Sie Fragen zur Wohnung? Oder zum Umfeld der Lydia-Eymann-Stiftung?»
Vor lauter Ehrfurcht vertrocknet mir der Gaumenzapfen. Ich bin schon froh, dass ich es überhaupt bis hierher geschafft habe. Aber die Aussicht eines der am höchsten dotierten Literatur-Stipendien im deutschen Sprachraum tatsächlich zu bekommen, übersteigt den Horizont meiner Hoffnung.
Außerdem bin ich immer befangen, wenn ein Bär theoretisch zerlegt wird. Natürlich kann ich ihn praktisch schon riechen. Aber das können die anderen Jäger auch. Ich bin nur einer von vier Schreiberlingen, die man persönlich in die Schweiz eingeladen hat. Zuvor haben die Stiftungsräte jeweils zwanzig bis dreißig Textseiten von ungefähr fünfzig Bewerbern gelesen. Aber nur einer von uns wird hier einziehen. Dass ich dieser Auserwählte sein könnte, erscheint mir aussichtslos.
«Darf der Stipendiat», frage ich, «ab und zu Freunde in die Wohnung einladen?»
«Wie viele Freunde?», fragt die Direktorin.
«Sieben», höre ich mich sagen.
Der Kassier stutzt.
«Wieso wissen Sie das so genau?»
Ja, das frage ich mich auch. Wie komme ich auf diese Zahl? Sieben ist eine archaische, eine magische Zahl, hoch aufgeladen mit Todsünden, glorreichen Helden und unbedingt zu begehenden Brücken. Sieben ist aber auch ein panischer Reflex der Hirnregionen, der, wie so vieles an mir, entwicklungspsychologisch noch im Pleistozän hängt. Vermutlich hätte ich gerne eine verlässliche Horde aus sieben Freunden. Manchmal trenne ich in Gedanken die Spreu vom Weizen, also die Bekannten von den Freunden, und komme dann auf Zahlen, die schwanken, je nach den Kriterien, die ich anlege, die aber immer von meiner Stimmung abhängen. In gütigen Momenten nehme ich auch die neuen Lebensgefährten meiner Freunde als Freunde dazu. Aber wenn ich mir ganz ehrlich bin, und diese Momente gibt es, je älter ich werde, umso öfter, dann bleibt nicht viel übrig. Die Menschen, die mir wirklich nahe sind, bringen immer wieder einmal Menschen in meinen Lebenskreis, die mir wenig bis gar nicht nahe sind. Das zu erkennen, dauert nicht lange. Um es mir einzugestehen, brauche ich länger. Bis ich es endlich ausspreche, vergehen mitunter viele, zermürbende Jahre.
«Haben Ihre sieben Freunde auch keine Handys?», durchbricht der jüngste Stiftungsrat mein hilfloses Schweigen. Betonungsmäßig hat er sich auf das Wörtchen sieben geworfen wie ein Rockstar in die ausgestreckten Arme eines frenetischen Publikums.
«Nein», gestehe ich, «sie haben alle Smartphones. Und spätestens wenn die letzte österreichische Telefonzelle eingestampft sein wird, werde ich mir ein Smartphone kaufen müssen. Es ist leider nur eine Frage der Zeit, bis auch ich dem größten Gott huldigen werde, den diese Menschheit je angebetet hat. Aber ich fürchte diesen Moment. Ich fürchte mich davor, keine Wahl mehr zu haben und hineingestoßen zu werden in die gnadenlose Dichte seines allumfassenden ‹Liebesnetzes›.»
Niemand reagiert, aber alle scheinen zu überlegen, was die Anführungszeichen bedeuten, die ich mit meinen Zeige- und Mittelfingern rund um das Wort «Liebesnetz» in die Luft gezeichnet habe. Genau vor solchen Momenten wollte mich mein Unterbewusstsein schon in der Unterführung warnen. Auf Menschen, die mich nicht kennen, können meine bombastischen Metaphern zweifellos zynisch wirken. Dabei ist mein Zynismus nur eine Patina auf einer Verzweiflung, die sich meiner Hilflosigkeit gegenüber den großen Umwälzungen verdankt, die unser Leben täglich schwieriger machen, obwohl sie genau das Gegenteil behaupten und vorgeben uns zu dienen.
Die Juroren bemühen sich, mich nicht ständig anzusehen. Andererseits müssen sie mich ansehen. Sie brauchen ein Bild von mir. Sie müssen mich mit den anderen Kandidaten vergleichen.
«In der Wohnung», nimmt der Präsident das Wort wieder an sich, «gibt es ein altes Festnetztelefon und einen Internetanschluss.»
«Festnetztelefone finde ich wunderbar», lobe ich die alten Bakelitklumpen. In Wahrheit gilt das Lob dem Präsidenten. Indem er die Atmosphäre versachlicht, hilft er mir, die Wogen meiner immer wiederkehrenden Nervosität zu glätten. Hinter mir liegen acht Stunden Zugsfahrt, während der ich mich auf diese Gesprächsrunde vorbereitet habe. Ich las Biographien berühmter Schweizer Schriftsteller und weiß jetzt, dass Friedrich Dürrenmatt gerne Würste gegessen hat. Außerdem hätte er seine großartigen Krimis niemals freiwillig geschrieben. Ihre Entstehung verdankt sich dem nachdrücklichen Befehl seiner Frau. Setz dich hin und schreib endlich einmal etwas, das Geld bringt!
Bis jetzt konnte ich dieses Spezialwissen nur teilweise verwerten. Mit ihren würdevoll hochgezogenen Schultern erinnern mich die Stiftungsräte an lebensgroße Pokerkarten. Schweizer Asse und Könige, die geduldig auf den besten Zeitpunkt warten, um sich auszuspielen. Sie tragen überwiegend dunkle, unaufdringliche, aber elegant und teuer wirkende Kleidungsstücke. Hier kostet eine einzelne Socke mehr als mein gesamtes Outfit. Der jüngste Stiftungsrat dürfte um die Vierzig sein. Die sechs anderen befinden sich altersmäßig schon in der der zweiten Halbzeit.
«Warum finden Sie Festnetztelefone wunderbar?», bohrt die strenge Rätin nach.
«Weil Festnetztelefone ihre Benützer nicht ständig verfolgen.»
«Und Sie meinen», bleibt sie am Ball, «wenn ich Sie richtig verstehe, dass Handys die Menschen verfolgen?»
«Ja.»
«Aber bei einem Verkehrsunfall rettet der schnelle Handy-Anruf mitunter Menschenleben», erklärt der jüngste Stiftungsrat.
«Das ist zweifellos ein immenser Vorteil», gestehe ich. «Das Mobiltelefon kann äußerst hilfreich sein. Andererseits beunruhigt mich das Ausmaß der Entzauberung, die von ihm ausgeht. Rilke sagt: ‹Ich will immer warnen und wehren, bleibt fern, die Dinge singen hör ich so gern.› In meiner Wahrnehmung zerstört das Handy genau diese befreiende Distanz zu den Dingen. Es verflechtet seine Benutzer mit einer flirrenden Oberfläche, in der die unterschiedlichsten Bedeutungen gleichgeschaltet werden und die Achtsamkeit für das Besondere verloren geht. Ich aber brauche nichts so dringend wie meine Achtsamkeit. Sie ist mein Seismograph, mit dem ich Freunde und besondere Momente erkennen kann. Außerdem hilft sie mir Fettnäpfe zu entdecken, sodass ich wenigstens nur in jeden zweiten steige.»
«Warum steigen Sie überhaupt hinein, wenn Sie den Fettnapf doch schon entdeckt haben?», will die sehr strenge Rätin wissen.
«Weil ich ein typischer Nachkriegs-Österreicher bin. Und dieser Typus kauft Abfangjäger, von denen er intuitiv weiß, dass sie schrottreif sind. Das ist aber nur der erste Teil des Selbstbetrugs. Der typische Österreicher meiner Generation spürt nämlich auch, dass die großartigen Gegengeschäfte, die man ihm vor dem Kauf verspricht, sich nach dem Kauf als Luftschlösser entpuppen werden. Dennoch kauft er. Er würde sogar dann noch kaufen, wenn er sich die Teile selbst zusammenbauen müsste, obwohl er keine Ahnung hat vom Flugzeugbau.»
«Warum tut er das?», erweitert die sehr strenge Rätin ihre Frage.
«Weil ihm erfolgreich suggeriert wurde und wird, dass er die Kriegsschuld seiner Mütter und Väter noch immer zu tilgen hat. Dafür muss er bis in eine unabsehbare Zukunft hinein bezahlen. Mit schlechtem Gewissen, Demut, Duckmäuserei und viel, viel Geld. Auch und gerade dann, wenn er ganz offensichtlich übervorteilt wird.»
«Wer suggeriert den Österreichern ihre Schuld?», kreist die Sekretärin weiter um dieses Thema.
«Der Zeitgeist», antworte ich.
«Und dieser Zeitgeist», nimmt die Direktorin das Hegelwort auf, «hat auch Ihnen persönlich