Krieg und Frieden. Лев Толстой
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»Nun, mein Freundchen, junger Fürst, wie heißt du denn?« wandte sich Fürst Nikolai Andrejewitsch zu Anatol. »Komm mal her, wir wollen ein bißchen miteinander reden, uns kennen lernen.«
»Aha, nun geht der Spaß los!« dachte Anatol und setzte sich lächelnd näher an den alten Fürsten heran.
»Nun also, was ich sagen wollte: Sie sind, wie ich höre, im Ausland erzogen, lieber Freund. Anders als ich und dein Vater; uns hat der Küster Lesen und Schreiben gelehrt. Sagen Sie mir, mein Lieber, Sie sind jetzt bei der Gardekavallerie?« fragte der Alte und blickte dabei aus geringer Entfernung dem jungen Mann unverwandt ins Gesicht.
»Nein, ich bin zur Linie übergegangen«, antwortete Anatol, der kaum imstande war, das Lachen zu unterdrücken.
»Ah! Aller Ehren wert! Sie wollen doch gewiß dem Kaiser und dem Vaterland Ihre Kräfte widmen, lieber Freund? Es ist eine kriegerische Zeit. Ein so kräftiger junger Mann muß dienen, muß dienen. Nun? Stehen Sie im Frontdienst?«
»Nein, Fürst. Unser Regiment ist ausgerückt. Aber ich werde jetzt bei einem anderen Regiment nur in der Liste geführt ... Bei welchem Regiment werde ich doch geführt, Papa?« wandte sich Anatol lachend an seinen Vater.
»Eine prächtige Art zu dienen, eine prächtige Art! Bei welchem Regiment werde ich geführt! Hahaha!« sagte Fürst Nikolai Andrejewitsch lachend.
Anatol lachte noch lauter als vorher. Auf einmal machte Fürst Nikolai Andrejewitsch ein finsteres Gesicht.
»Nun, dann kannst du wieder gehen«, sagte er zu Anatol.
Anatol ging lächelnd wieder zu den Damen.
»Du hast sie im Ausland erziehen lassen, Fürst Wasili, nicht wahr?« wandte sich der alte Fürst an den Fürsten Wasili.
»Ich habe für ihre Ausbildung getan, was ich nur konnte; und ich kann Ihnen versichern, daß die dortige Erziehung weit besser ist als die bei uns.«
»Ja, heutzutage ist alles anders, alles neumodisch. Ein frischer Bursche, das muß man sagen! Na, dann wollen wir in mein Zimmer gehen.«
Er faßte den Fürsten Wasili unter den Arm und führte ihn in sein Arbeitszimmer.
Sobald Fürst Wasili mit ihm allein war, eröffnete er ihm sofort, was er wünsche und hoffe.
»Was denkst du dir denn?« erwiderte der alte Fürst ärgerlich. »Meinst du, daß ich sie hier festbinden will? Daß ich mich nicht von ihr trennen kann? Törichte Ideen von euch!« rief er zornig. »Meinetwegen morgen! Nur das sage ich dir: ich will meinen Schwiegersohn erst genauer kennenlernen. Du kennst meinen Grundsatz: Offenheit und Klarheit in allen Dingen! Ich will meine Tochter morgen in deiner Gegenwart fragen; wenn sie ihn will, so mag er eine Weile hier bei uns wohnen. Dann werde ich ihn mir ansehen.« Der Fürst schnob durch die Nase. »Mag sie ihn heiraten; mir ganz gleich!« schrie er mit ebenso scharfer, kreischender Stimme wie damals, als er von seinem Sohn Abschied nahm.
»Ich will gegen Sie ganz offen sein«, erwiderte Fürst Wasili in dem Ton eines schlauen Menschen, der überzeugt ist, daß bei dem Scharfblick seines Gegenübers Kniffe und Pfiffe doch nutzlos sein würden. »Sie sehen ja doch die Menschen durch und durch. Anatol ist kein Genie, aber ein ehrlicher, braver Bursche, ein vortrefflicher Sohn und Bruder.«
»Nun, nun, gut, wir wollen sehen.«
Wie alle in der Abgeschiedenheit lebenden Frauen, die lange ohne männliche Gesellschaft gewesen sind, so hatten bei Anatols Erscheinen auch die drei Damen im Hause des Fürsten Nikolai Andrejewitsch das Gefühl, daß ihr Leben bisher eigentlich kein wahres Leben gewesen sei. Bei ihnen allen hatte sich die Kraft, zu denken, zu empfinden, zu beobachten, augenblicklich verzehnfacht, und ihr bisher gleichsam in Finsternis verbrachtes Leben wurde auf einmal von einem neuen, bedeutungsvollen Licht erhellt.
Prinzessin Marja dachte jetzt mit keinem Gedanken mehr an ihr Gesicht und an ihre Frisur. Das hübsche, offene Gesicht des Mannes, der vielleicht bald ihr Gatte wurde, nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er erschien ihr gutherzig, tapfer, energisch, mannhaft und hochherzig. Von der Richtigkeit dieses Urteils war sie überzeugt. Tausend lockende Bilder eines künftigen Familienlebens stellte ihre Phantasie ihr unermüdlich vor Augen. Aber sie wies diese Bilder von sich und suchte sie zu verdecken.
»Aber bin ich auch nicht zu kalt gegen ihn?« dachte Prinzessin Marja. »Ich suche mich zurückzuhalten, da ich in der Tiefe meiner Seele die Empfindung habe, daß ich ihm schon gar zu nahe gerückt bin. Aber er weiß ja nichts von alledem, was ich über ihn denke, und glaubt vielleicht, daß er mir unangenehm sei.«
Und nun bemühte sich Prinzessin Marja, gegen den neuen Gast liebenswürdig zu sein; aber auf diese Kunst verstand sie sich nicht. »Das arme Mädchen! Sie ist nichtswürdig häßlich«, dachte Anatol.
Mademoiselle Bourienne, die gleichfalls durch Anatols Ankunft in einen hohen Grad von Aufregung versetzt war, hatte Gedanken von anderer Art. Dieses schöne junge Mädchen, das keine feste Stellung in der Gesellschaft, keine Verwandten und Freunde und nicht einmal eine Heimat besaß, dachte natürlich nicht daran, ihr ganzes Leben dem Dienst beim Fürsten Nikolai Andrejewitsch, der Tätigkeit als seine Vorleserin und der Freundschaft mit Prinzessin Marja zu weihen. Mademoiselle Bourienne wartete schon lange auf den russischen Fürsten, der auf den ersten Blick zu würdigen wissen werde, wie weit sie den häßlichen, schlecht angezogenen, unbeholfenen russischen Fürstentöchtern überlegen sei, sich in sie verlieben und sie entführen werde; und nun war dieser russische Fürst endlich erschienen! Mademoiselle Bourienne hatte eine Geschichte im Kopf, die sie einmal von einer Tante gehört und selbst mit einem Schluß versehen hatte, und die sie sich in Gedanken gern immer wieder erzählte. In dieser Geschichte kam vor, wie vor ein verführtes Mädchen plötzlich ihre arme Mutter, sa pauvre mère, hintrat und ihr Vorwürfe machte, weil sie sich ohne Ehe einem Mann hingegeben hatte. Mademoiselle Bourienne wurde oft bis zu Tränen gerührt, wenn sie in Gedanken »ihm«, dem Verführer, diese Geschichte erzählte. Und nun war dieser »er«, ein echter russischer Fürst, erschienen; der werde sie entführen, und dann werde die arme Mutter erscheinen, und der Fürst werde sie heiraten. So legte sich Mademoiselle Bourienne im Kopf ihr ganzes zukünftiges Leben zurecht, während sie gleichzeitig sich mit »ihm« über Paris unterhielt. Mademoiselle Bourienne ließ sich dabei nicht durch besondere Berechnungen leiten (sie dachte nicht einmal einen Augenblick darüber nach, was sie nun zu tun habe), sondern sie hatte ihr gesamtes Verhalten schon längst sozusagen gebrauchsfertig daliegen und brachte es jetzt einfach bei dem auf der Bildfläche erschienenen Anatol zur Anwendung, dem sie so viel als möglich zu gefallen wünschte und sich bemühte.
Der kleinen Fürstin aber ging es wie einem alten Kavalleriepferd, das den Klang der Trompete hört und zum Galopp ansetzt: ohne sich dessen bewußt zu werden und ohne an ihren Zustand zu denken, griff sie zu den gewohnten Künsten der Koketterie, ohne jeden Hintergedanken und ohne die Absicht, mit jemand um den Preis zu ringen, lediglich in harmloser, leichtsinniger Fröhlichkeit.
Trotzdem Anatol sich in weiblicher Gesellschaft gewöhnlich das Ansehen gab, als seien ihm die eifrigen Bemühungen der Frauen um ihn zuwider, fühlte er doch bei der Wahrnehmung des Eindrucks, den er auf diese drei Damen gemacht hatte, seine Eitelkeit angenehm gekitzelt. Außerdem begann sich bei ihm der hübschen, herausfordernden Mademoiselle Bourienne gegenüber jenes leidenschaftliche, animalische Gefühl zu regen, das ihn immer mit außerordentlicher Schnelligkeit überkam und zu den ärgsten und tollkühnsten Handlungen hinriß.
Die Gesellschaft begab sich nach dem Tee ins Sofazimmer, und man bat die Prinzessin, doch etwas auf dem Klavier vorzuspielen. Anatol stand, sich auf das Klavier