Der Glöckner von Notre Dame. Victor Hugo
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Und wenn wir auf die Kathedrale hinaufsteigen, ohne uns bei den tausend Barbareien aller Art aufzuhalten, – was hat man mit dem hübschen kleinen Thurme angefangen, welcher sich auf den Durchschnittspunkt des Kreuzgewölbes stützte, und welcher ebenso schlank und kühn, wie sein Nachbar, der (gleichfalls zerstörte) Thurm der heiligen Kapelle, aber höher, spitzer, tönender und reicher durchbrochen, als die Thürme, in den Himmel hineinragte? Ein Baumeister von gutem Geschmacke (1787) hat ihn abgetragen und geglaubt, es genüge, die Verletzung hinter jenem breiten Bleipflaster zu verstecken, das dem Deckel eines Kochtopfes gleicht. So ist die wundervolle Kunst des Mittelalters allerorts behandelt worden, namentlich aber in Frankreich. An ihrer Ruine kann man drei Arten von Verletzungen unterscheiden, welche ihr sämmtlich Wunden verschiedener Tiefe beibrachten: zuerst die Zeit, welche ihr Aeußeres hier und da kaum merklich verletzt und angefressen hat; dann die politischen und religiösen Umwälzungen, die ihrer Natur nach blind und leidenschaftlich, bald für die geistliche, bald für die weltliche Macht im Sturme über sie hergefallen sind, und das reiche Kleid seiner Steinmetz- und Bildhauerarbeiten zerfetzt, ihre Rosetten zerschlagen, ihre Arabesken- und Figurenkränze zerbrochen, ihre Statuen herabgerissen haben; endlich die immer wunderlicheren und alberneren Moden, welche seit den regellosen und glänzenden Abschweifungen der »Renaissance« in dem unvermeidlichen Verfalle der Baukunst endigten. Die Moden haben mehr Uebel verursacht, als die Revolutionen. Sie haben in den Lebensnerv geschnitten, sie haben das Knochengerüst der Kunst angegriffen, haben das Bauwerk beschnitten, zerstückelt, es in seiner Gestalt wie in seiner Symbolik, in seinem Zusammenhange wie in seiner Schönheit zerstört. Und hernach haben die Moden wieder ausgebessert, eine Anmaßung, die wenigstens weder die Zeit, noch die Revolutionen gehabt haben. Sie haben dreist, mit »gutem Geschmacke« den Verletzungen der gothischen Baukunst ihre elenden alltäglichen Schnörkeleien, ihre marmornen Bänder, ihre metallenen Zieraten angepaßt: eine wahre Pest von Kugelverzierungen, Schnecken, Einschnitten, Einkleidungen, Guirlanden, Fransen, steinernen Flammen, bronzenen Wolken, dicken Liebesgöttern, bausbäckigen Engelsköpfen, welche in der Betzelle Katharinens von Medici das Antlitz der Kunst benagt und sie, zwei Jahrhunderte später im Boudoir der Dubarry, gequält und grinzend verenden läßt.
So entstellen also, um die Punkte, welche wir soeben nannten, zusammenzufassen, drei Arten von Verwüstungen heute die gothische Baukunst: Furchen und Flecke auf der Oberfläche, als das Werk der Zeit; thatsächliche Spuren, Gewaltthätigkeiten, Verletzungen, Brüche – als das Werk der Revolutionen von Luther an bis Mirabeau; Verstümmlungen, Abtragungen, Versetzungen des Gliederbaues, »Restaurationen« – dies die griechische, römische und barbarische Arbeit von Kunstgelehrten nach Maßgabe Vitruvs und Vignola's. Diese herrliche Kunst, welche die Vandalen erschaffen hatten, haben die Akademien vernichtet. Auf die Jahrhunderte, auf die Revolutionen, welche wenigstens unparteiisch und großartig verwüsteten, folgte der Schwarm zünftiger und vereideter Schularchitekten, welche sie planmäßig und mit Wahl des schlechten Geschmackes herabwürdigten, welche, zum höchsten Ruhme des Parthenons, das krause Faltenwerk Ludwigs des Fünfzehnten an die Stelle gothischer Zackenzieraten setzten. Das ist der Fußtritt des Esels für den sterbenden Löwen. Das ist die alte Eiche, die von oben abstirbt, und die zuguterletzt von den Würmern angebohrt, zerfressen und durchlöchert wird.
Wenn doch lieber noch der Zeitraum vorhanden wäre, wo Robert Cenalis, welcher Notre-Dame von Paris mit jenem berühmten, »von den alten Heiden so oft angerufenen« und von Herostrat unsterblich gemachten Tempel der Diana in Ephesus verglich, entdeckte, daß die gallische Kathedrale »an Länge, Breite, Höhe und Bauart viel vortrefflicher sei«!
Notre-Dame in Paris ist übrigens nicht das, was man ein vollkommenes, abgeschlossenes und klassisches Baudenkmal nennen kann. Sie ist keine eigentlich romanische, sie ist aber auch keine gothische Kirche. Dieses Gebäude ist kein Urbild. Notre-Dame in Paris hat nicht, wie die Abtei zu Tournus, die wuchtige und massive Breite, die runde und weite Wölbung, die eisige Nacktheit, die majestätische Einfachheit von Gebäuden, welche dem Rundbogen die Entstehung verdanken. Sie ist auch nicht, wie die Kathedrale von Bourges, das großartige, schlanke, vielformige, reiche, strotzende, blühende Erzeugnis der Gothik. Es ist unmöglich, sie unter jene alte Familie finsterer, mystischer, niedriger und von dem Rundbogen gleichsam zusammengedrückter Kirchen zu rechnen, welche, was die Decke betrifft, fast ägyptisch, ganz hieroglyphisch, ganz priesterlich, ganz symbolisch sind; die hinsichtlich ihrer Verzierungen mehr mit Rauten und Zickzacks als mit Blumen, mehr mit Blumen als mit Thieren, mehr mit Thieren als mit Menschenfiguren überladen sind; es ist weniger ein Werk des Baumeisters als des Bischofs, die erste Umgestaltung der Kunst, der ganze Ausdruck der theokratischen und militärischen Zucht, welche im untergehenden oströmischen Reiche Wurzel schlägt und mit Wilhelm dem Eroberer aufhört. Ebenso wenig kann unsere Kathedrale unter jene andere Familie hoher, luftiger, an Glasmalereien und Bildhauerarbeiten reicher Kirchen gerechnet werden, die scharf in den Formen, kühn in den Gestaltungen bürgerliches Gemeingut als politische Ausdrucksformen, frei, launig und fessellos als Kunstwerke sind; es ist die zweite Umgestaltung der Baukunst, welche nicht mehr hieroglyphisch, unwandelbar und priesterlich, sondern kunstreich, fortschrittlich und volksthümlich ist, mit der Rückkehr von den Kreuzzügen beginnt und unter Ludwig dem Elften endet. Notre-Dame in Paris ist nicht von rein romanischer Abkunft, wie die ersteren, aber auch nicht von rein arabischer, wie die zweiten.
Sie ist ein Uebergangsbauwerk. Der sächsische Baumeister war eben mit den ersten Pfeilern des Schiffes fertig, als der Spitzbogen, welcher aus dem Kreuzzuge mitkam, sich siegreich auf diesen breiten romanischen Kapitälen niederließ, welche nur Rundbogen tragen sollten. Der von nun an herrschende Spitzbogen hat den übrigen Theil der Kirche aufgeführt. Doch unerfahren und schüchtern bei seinem ersten Auftreten, erweitert er sich, breitet sich aus, mäßigt sich noch und wagt noch nicht, sich in Thürme und Spitzbogenfenster emporzuschwingen, wie er es später an so viel wundervollen Münstern gethan. Man möchte sagen, er fühlt die Nachbarschaft der schweren, romanischen Pfeiler.
Uebrigens sind diese Bauwerke der Uebergangsperiode aus dem Romanischen ins Gothische nicht weniger des Studiums werth, als die der reinen Formen. Sie bringen eine Abart der Kunst zum Ausdrucke, welche ohne sie verloren gegangen sein würde. Es ist das Pfropfreis des Spitzbogens auf dem Rundbogen.
Notre-Dame zu Paris insbesondere ist ein merkwürdiges Muster dieser Abart. Jede Fläche, jeder Stein des ehrwürdigen Denkmals ist ein Blatt nicht allein der Geschichte des Landes, sondern auch derjenigen der Wissenschaft und Kunst. Während also, um hier nur hauptsächliche Einzelnheiten anzuführen, die kleine Rothe Pforte fast die Grenzen der gothischen Zartheit des fünfzehnten Jahrhunderts streift, reichen die Pfeiler des Schiffes vermöge ihres Umfanges und ihrer Schwere bis zur karolingischen Abtei von Saint-Germam-des-Prés zurück. Man möchte glauben, daß sechs Jahrhunderte zwischen dieser Thür und diesen Pfeilern liegen. Sogar die Alchymisten finden in den Symbolen des großen Portales einen befriedigenden Inbegriff ihrer Wissenschaft, von der die Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie eine so vollständige Hieroglyphe war. Somit finden sich die romanische Abtei, die mystische Kirche, gothische und sächsische Kunst, der schwere, runde Pfeiler, welcher an Gregor den Siebenten erinnert, die geheimnisvolle Symbolik, mit der Nikolaus Flamel als Vorläufer Luthers auftritt, die Einheit der Kirche, das Schisma, Saint-Germain-des-Prés, Saint-Jaques-de-la-Boucherie – alles das verschmolzen, vereinigt, verbunden in der Kirche Notre-Dame. Diese formenschöpferische Hauptkirche ist unter den alten Gotteshäusern von Paris eine Art Wunder; sie hat das Haupt von der einen, die Glieder von der andern, das Schiff von jener, von allen etwas. Wir wiederholen es, diese Bastardbauformen sind nicht am wenigsten interessant für den Künstler, den Alterthumsforscher, für den Geschichtsschreiber. Sie lassen erkennen, in wie weit die Baukunst etwas Ursprüngliches ist (was auch die cyklopischen Ueberreste, die Pyramiden Aegyptens, die riesigen Hindupagoden darthun), daß die größten Erzeugnisse der Baukunst weniger die Werke einzelner, als vielmehr solche der Gesellschaft sind; mehr das Erzeugnis arbeitender Völker, als der Erguß genialer Männer; die Schatzkammer, welche ein Volk hinterläßt; die Anhäufungen, welche Jahrhunderte bewirken, der allmähliche Niederschlag