Der Glöckner von Notre Dame. Victor Hugo
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Die großen Baudenkmäler, gerade wie die großen Gebirge, sind das Werk von Jahrhunderten. Oft gestaltet die Kunst sich um, während sie noch ruhen, pendent opera interrupta; sie bilden sich ruhig fort, gemäß der neugestalteten Kunst. Die neue Kunst bemächtigt sich des Denkmals, wo sie es findet, versenkt sich in dasselbe, assimilirt sich mit ihm, entwickelt es nach seinem Geschmacke und beendigt es, wenn sie kann. Das geht ohne Störung, ohne Anstrengung, ohne Rückschritt vor sich, zufolge eines ruhigen Naturgesetzes. Ein Pfropfreis kommt dazu, die Säfte circuliren, wieder beginnt eine Vegetation. Wahrlich, es ist Stoff für sehr große Bücher und oft Weltgeschichte der Menschheit in diesen allmählichen Verbindungen mehrerer Kunstgattungen zu verschiedenen Höhen an ein und demselben Baudenkmale. Der Mensch, der Künstler, das Individuum verschwinden bei diesen großen Massen ohne Namen des Urhebers; es ist der Geist der Menschheit, der sich hier zusammenfaßt und als Ganzes erscheint. Die Zeit ist der Baumeister, ein Volk macht den Maurer.
Um hier nur die christlich-europäische Baukunst, diese nachgeborene Schwester der großen Mauerverbindungen des Orients ins Auge zu fassen, so erscheint sie dem Auge als eine mächtige, in drei scharf gesonderte Schichten getheilte Formation, welche sich übereinander thürmen: die romanische, die gothische Schicht und die der Renaissance, welche wir gern die griechisch-römische nennen möchten. Die romanische Schicht, die älteste und unterste, hat den Rundbogen als Merkmal, der, von der griechischen Säule getragen, in der neuen und obersten Schicht, der Renaissance, wieder zum Vorschein kommt. Zwischen beiden liegt der Spitzbogen. Die Bauwerke, welche ausschließlich einer dieser drei Schichten angehören, sind vollständig klar, einheitlich und vollständig. Dahin gehört die Abtei zu Jumiéges, die Kathedrale zu Reims, die Heilige Kreuzkirche zu Orléans. Aber die drei Schichten mischen und verschmelzen sich an ihren Grenzscheiden, wie die Farben im Sonnenspectrum. Daher kommen die zusammengesetzten Baudenkmäler, die Gebäude der Abstufungen und Uebergangszeit. Eins ist romanisch in den Grundmauern, gothisch in der Mitte, griechisch-römisch in der Spitze; der Grund ist, weil sechshundert Jahre auf seine Vollendung verwendet worden sind. Diese Abart ist selten. Der Vertheidigungsthurm von Etanges ist ein Muster davon. Doch häufiger sind die Baudenkmäler zweier Formationen. Dahin gehört Notre-Dame in Paris, als Spitzbogenmonument, das mit seinen ersten Pfeilern in jene romanische Schicht hinabtaucht, wohin das Portal von Saint-Denis und das Schiff von Saint-Germain-des-Prés versenkt sind. Dahin gehört der herrliche, halbgothische Kapitelsaal zu Bocherville, bei welchem die romanische Schicht bis zur Mitte der Wände reicht; dahin die Kathedrale zu Rouen, die ganz gothisch sein würde, wenn sie mit der Spitze ihres Mittelthurmes nicht in die Schicht der Renaissance hineinreichte.
Uebrigens betreffen alle jene Nüancen und Unterschiede nur die Oberfläche der Bauwerke. Die Kunst hat nur am Aeußern Veränderungen vorgenommen. Die Einrichtung des christlichen Gotteshauses ist an und für sich nicht angerührt worden. Es ist immer dieselbe innere Gestalt, dieselbe logische Vertheilung der einzelnen Partien. Welches auch immer die gemeiselte und schmuckvolle Hülle einer Kathedrale sein möge, so findet man dahinter, wenigstens im Keime und im anfänglichen Zustande, immer wieder die römische Basilika. Sie entwickelt sich ewig auf diesem Boden nach demselben Gesetze. Es sind unbeirrterweise zwei Schiffe, die sich kreuzweise durchschneiden, und deren oberer Endtheil, in einen Halbbogen gerundet, den Chor bildet; auch finden sich immer Seitenchöre für die Processionen im Innern, für die Kapellen, Gattungen von Seitengängen, wo das Hauptschiff mit seinen Bogenweiten hineinmündet. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, so ändert sich die Zahl der Kapellen, der Portale, der Thürme und Thürmchen ins Unendliche, ganz nach der Phantasie des Jahrhunderts, des Volkes und der Kunst. Ist für den Dienst des Cultus einmal gesorgt und er festgestellt, so verfährt die Baukunst nach Gutdünken. Bildsäulen, Glasmalereien, Rosetten, Arabesken, Zackenwerk, Kapitäle, Basreliefs, alle diese Erzeugnisse der Phantasie bestimmt sie nach einer Berechnung, wie sie ihr paßt. Daher der wunderbare Reichthum im Aeußern dieser Bauwerke, in deren Grundform so viel Ordnung und Einheit herrscht. Der Stamm des Baumes ist unwandelbar, sein Astwerk vielseitig-launig.
2. Paris aus der Vogelschau.
Wir haben es soeben versucht, diese wunderbare Kirche Notre-Dame zu Paris für den Leser neu herzustellen. Wir haben in Kürze die meisten Schönheiten angegeben, welche sie im fünfzehnten Jahrhunderte besaß, und die ihr heute fehlen; aber wir haben die Hauptsache vergessen: nämlich den Anblick von Paris zu schildern, welchen man damals von der Höhe seiner Thürme herab genoß.
In Wahrheit gab es, wenn man nach langem Umhertasten auf der finstern Wendeltreppe, welche senkrecht die dicke Mauer der Thürme durchbricht, endlich unvermuthet auf einer der beiden licht- und luftumflossenen Plattformen hervortauchte, kaum ein schöneres Bild als das, welches sich von allen Seiten auf einmal unter den Augen entrollte; ein Schauspiel »eigener Art«, von dem sich diejenigen unserer Leser leicht eine Vorstellung machen können, welche so glücklich gewesen sind, eine ganz gothische, vollständige, gleichartige Stadt zu sehen, wie es deren noch einige giebt, z.B. Nürnberg in Baiern, Vittoria in Spanien; oder selbst kleinere Muster, vorausgesetzt, daß sie wohl erhalten sind, wie Vitré in der Bretagne, Nordhausen in Preußen.
Das Paris von vor dreihundertundfünfzig Jahren, das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts war schon eine Riesenstadt. Wir täuschen uns gewöhnlich, wir Pariser, hinsichtlich der Bodenfläche, welche wir seitdem eingenommen zu haben glauben. Paris ist seit Ludwig dem Elften um nicht viel mehr, denn um ein Drittheil gewachsen; gewiß aber hat es weit mehr an Schönheit verloren, als es an Größe gewonnen hat.
Paris ist, wie man weiß, auf jener alten Insel der Altstadt entstanden, welche die Gestalt einer Wiege hat. Der Strand dieser Insel war seine erste Einfriedigung, die Seine sein erster Graben. Paris blieb mehrere Jahrhunderte auf die Insel beschränkt, hatte zwei Brücken: eine nach Norden, die andere nach Süden zu, und zwei Brückenköpfe, welche zugleich seine Thore und seine Festungswerke waren: Groß-Châtelet auf der rechten, Klein-Châtelet auf der linken Seite. Dann, seit den Königen aus der ersten Generation, überschritt Paris, dem es zu enge auf seiner Insel wurde, und das sich hier nicht mehr drehen und wenden konnte, den Fluß. Hierauf begann über Groß- und Klein-Châtelet hinaus, von beiden Ufern der Seine aus, eine erste Einfriedigung von Mauern und Thürmen in das Land hinein zu dringen. Von dieser alten Schutzmauer gab es im letzten Jahrhunderte noch einige Reste; heute existirt nur noch die Erinnerung daran und hier und da ein Ueberbleibsel, wie das Thor Baudets oder Baudoyer, lateinisch: porta Bagauda. Nach und nach überflutet, benagt, verzehrt und vertilgt die Häuserwoge, die stetig vom Herzen der Stadt nach außen gedrängt wird, diese Umfassungsmauer. Philipp August giebt ihr einen neuen Damm; er schließt Paris in eine Kreiskette von dicken, hohen und festen Thürmen ein. Länger als ein Jahrhundert hindurch drängen die Häuser sich aneinander, häufen sich und heben ihr Niveau in diesem Becken wie Wasser in einem Behälter. Sie beginnen tiefgehend zu werden, setzen Stockwerke über Stockwerke, übersteigen einander, sprudeln in die Höhe wie comprimirte Flüssigkeit, und jedes bestrebt sich, das Haupt über seine Nachbarn zu heben, um ein wenig frische Luft zu haben. Die Straße kreuzt und verengt sich mehr und mehr; jeder Platz füllt sich und verschwindet. Schließlich springen die Häuser über die Mauer Philipp Augusts hinaus, zerstreuen sich lustig in der Ebene, wie Flüchtlinge ohne Ordnung und Symmetrie. Hier thun sie sich zu Quartieren zusammen, umgeben sich im Gefilde mit Gärten und machen sich's bequem. In dieser Weise erweitert sich die Stadt seit 1367 derartig in die Vororte hinein, daß eine neue Einfassung nöthig wird, vornehmlich am linken Ufer: Karl der Fünfte baute sie. Aber eine Stadt, wie Paris, ist im anhaltenden Wachsthume. Nur solche Städte werden Hauptstädte. Sie sind Filter, in welche alle geographischen, politischen, sittlichen und intellectuellen Strömungen eines Landes, alle Triebe eines Volkes einmünden; Brunnen der Civilisation so zu sagen, aber auch Kloaken, wo Handel und Gewerbefleiß, Intelligenz und Bevölkerung, alles was Saft, was Leben, was Seele an einem Volke ist, zusammenfließt und ohne Aufhören sich aufhäuft, Tropfen um Tropfen, Jahrhundert um Jahrhundert. Die Mauer Karls des Fünften hat jedoch dasselbe Geschick, wie diejenige Philipp Augusts. Seit dem