Dr. Norden Classic 42 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Und jetzt kommt das Tüpfelchen auf dem i.« Hochkonzentriert stand Tatjana Bohde in der Backstube neben der Schwester ihres Freundes und hielt eine geviertelte frische Feige in der Hand. »Die musst du jetzt ganz vorsichtig auf die Sahnerosette setzen.« Trotz ihrer Sehbehinderung tat Tatjana in schlafwandlerischer Sicherheit genau das, was sie Dési Norden angekündigt hatte. »So, fertig!«
»Mann, Tatti, das sieht ja irre aus.« Dési Norden, die in diesem spannenden Augenblick die Luft angehalten hatte, brach in lautes Jubeln aus. »Dafür hast du einen Preis verdient!« Begeistert betrachtete sie die kunstvolle Torte, die tatsächlich wie ein Gemälde aussah. Ein Brandteigring hielt die leichte Vanillecreme, auf der sich frische Beeren und andere Früchte häuften. Der Ring war abwechselnd mit einem Windbeutel und einer mit einer geviertelten Feige verzierten Rosette garniert.
»Ein Lob aus deinem Munde ist mir mehr wert als sämtliche Preise der Welt«, erwiderte Tatjana bescheiden. »Ich hoffe nur, dass meine kalorienarme Variation der Saint-Honoré-Torte auch schmeckt.«
»Wenn du die bei uns auf den Esstisch stellst, ist sie in drei Minuten weg. Das garantiere ich dir«, grinste Dési frech in Gedanken an ihre gefräßigen Brüder. »Wahrscheinlich bekomme ich wieder kein Bröselchen davon ab.«
»Oh, keine Angst, für diesen Fall hab ich vorgesorgt«, erklärte Tatjana geheimnisvoll und winkte Dési mit sich zum Kühlschrank. Sie öffnete ihn und deutete auf eine weitere Torte, die eine genaue Kopie der anderen war.
»Du bist einfach ein Schatz!« Vor Begeisterung fiel Dési der Freundin ihres ältesten Bruders um den Hals. »Und klug obendrein.«
»Ich würde mal sagen lernfähig!«, lachte Tatjana ausgelassen. Nur zu gut erinnerte sich die angehende Bäckerin an die Abende, an denen sie zur Nachspeise Gebäck aus der Bäckerei Bärwald mitgebracht hatte. Selten hatte es länger als fünf Minuten gedauert, bis die wohl gefüllten Teller leer waren und nur noch zufriedene Gesichter und mit Puderzucker bestäubte Fingerspitzen vom Genuss zeugten. »Deshalb nehmen wir heute Abend auch beide Torten zu deiner Familie mit.«
Natürlich gefiel das Dési. Trotzdem wiegte sie gedankenvoll den Kopf.
»Was sagt denn Frau Bärwald dazu? Sie will sie doch bestimmt verkaufen.«
»Zuerst einmal muss die Kreation den Familientest bestehen. Erst dann ist sie zum Verkauf freigegeben. Ihr seid meine schärfsten und wichtigsten Kritiker«, erklärte Tatjana sichtlich stolz, als die kleine Klingel über der Tür der Bäckerei Kundschaft ankündigte.
Frau Bärwald war an diesem Nachmittag zu ihrer Mutter gerufen worden, deshalb hatte sich Dési spontan bereit erklärt, Tatjana unter die Arme zu greifen.
Schnell wischte sie sich die sahnigen Finger an einem Geschirrtuch ab, rückte die lange, blütenweiße Kellnerschürze gerade und ging nach vorn in den Verkaufsraum.
»Einen wunderschönen guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, begrüßte die Schülerin ihre Kundschaft strahlend, als ihr das Wort im Hals stecken blieb. »Valerie, bist du das?« Entsetzt starrte sie auf das Mädchen, das an den Tresen getreten war. Als Dési ihre ehemalige Schulkameradin vor ein paar Monaten zum letzten Mal gesehen hatte, war auch sie noch ein bildhübsches Mädchen gewesen. Doch etwas war geschehen. »Du … du hast dich ganz schön verändert«, stammelte sie und rang sich ein hilfloses Lächeln ab.
»Hallo, Dési, tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.« Wenigstens Valeries melodische Stimme war noch dieselbe. Und als sie lächelte, konnte Dési die vertrauten Züge in dem kugelrunden, blassen, irgendwie teigigen Gesicht ausmachen. »Ich weiß, dass ich ziemlich komisch aussehe. Das kommt vom Cortison«, erklärte Valerie bereitwillig.
»Cortison?«, wiederholte Dési verständnislos. Als Arzttochter wusste sie natürlich, dass es sich dabei um eine Gruppe entzündungshemmender Medikamente handelte. »Warum nimmst du sowas?«
»Ich bin krank«, erwiderte Valerie und klang recht abgeklärt. »Deshalb muss ich starke Medikamente nehmen.«
»Was hast du denn?«, fragte Dési spontan und voller Mitgefühl. Die beiden Mädchen waren einige Jahre zusammen in die Schule gegangen, bis Valerie mit ihren Eltern in einen anderen Stadtteil gezogen war. Obwohl sie einander versprochen hatten, sich regelmäßig zu sehen, war der Kontakt nach und nach eingeschlafen. Umso größer war der Schreck, sie jetzt so wiederzusehen. »Ich meine … wenn die Frage nicht zu aufdringlich ist.«
Valerie lächelte freundlich.
»Wenn ich dir den Namen der Krankheit sag, bist du auch nicht schlauer.«
Doch wenn sie gedacht hatte, ihre ehemalige Freundin damit abspeisen zu können, hatte sie sich geirrt. Nicht umsonst war Dési Arzttochter. Sie war gewöhnt daran, den kompliziertesten Arztgeschichten zu folgen, und hatte allein durch’s Zuhören beim allabendlichen Abendessen ein beachtliches Wissen erworben.
»Wenn du Lust hast, kannst du mir alles erzählen«, bot sie nach einem raschen Blick auf die Uhr an. Es war kurz vor sechs Uhr, und die Bäckerei sowie das angrenzende kleine Café würden in einer halben Stunde schließen.
Dieses Angebot überraschte Valerie sichtlich. Die meisten Menschen fühlten zwar mit der Schülerin, wollten aber lieber keine Details hören. Zu bedrohlich war die grausame Wahrheit, die Hilflosigkeit kaum auszuhalten.
»Sehr gern, aber du musst wirklich nicht …«
»Ich weiß, dass ich nicht muss«, versicherte Dési schnell und zwinkerte Valerie zu. »Wenn du Lust hast, kannst du dich schon mal ins Café setzen. Ich bin gleich bei dir. Was willst du trinken? Und essen?«, fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein. »Deshalb bist du ja wahrscheinlich in die Bäckerei gekommen.«
Valerie lachte gutmütig.
»Stimmt. Ich hab einen Bärenhunger und könnte einen ganzen Laib Brot verschlingen.« Ihr hungriger Blick ruhte auf der Auslage der Bäckerei. »Oder doch lieber eine Torte? Aber davon wird man so dick.« Unwillkürlich strich sie mit den Händen über den Bauch, der sich deutlich unter dem weiten Shirt wölbte. »Daran ist das blöde Cortison schuld. Wenn es wenigstens was helfen würde.« Mit einem Mal wirkte sie so unglücklich, dass Dési sie am liebsten in die Arme geschlossen hätte. Da sie aber noch einen weiteren Kunden bedienen musste, der eben hereingekommen war, musste sie diese tröstende Geste auf später verschieben.
»Ich glaube, für die ersten Beschwerden hab ich genau das Richtige für dich«, versprach sie in Gedanken an Tatjanas aufsehenerregende, aber kalorienarme Torte. »Und über alles andere reden wir später.«
»Gut.« Valerie war einverstanden und wandte sich ab, um sich einen Platz im kleinen angrenzenden Café zu suchen. Dési sah ihr nach und kämpfte einen Moment lang mit ihren aufwallenden Gefühlen. Doch schnell hatte sie sich wieder im Griff und bediente den Kunden, der geduldig vor dem Tresen gewartet hatte, mit gewohnter Freundlichkeit.
*
Auch in der Praxis Dr. Norden kehrte an diesem Abend langsam Ruhe ein, sodass Zeit für ein ausgiebigeres Gespräch mit einem Patienten blieb.
»Bitte nehmen Sie es mir nicht übel«, bat Dr. Daniel Norden, als sein Patient ihm nach der Behandlung wieder ins Sprechzimmer folgte. »Aber normalerweise kommen eher junge Leute mit so einer Verletzung zu mir.« Während er sich an den Schreibtisch setzte, ruhte sein Blick auf Albert Kiesling. Der Anwalt war in seinem Alter, und die dicke Lippe wollte nicht recht zu dem Bild passen, das sich Dr. Norden bereits in der Vergangenheit von ihm gemacht hatte. Albert war ein durch und durch seriöser Mann. Nachdem er sich von der Trennung von seiner Frau erholt hatte, schien er regelrecht aufgeblüht zu sein