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Es war nach zehn Uhr abends, als Dr. Daniel Norden in die Villa Deckert gerufen wurde. Er kannte die Familie schon ein paar Jahre und wusste gut über sie Bescheid.
Sie besaßen eine Keramikfabrik und eine Ziegelei, solide Unternehmen, und der alte Martin Deckert war sehr traditionsbewusst.
Eigentlich alt konnte man ihn noch nicht nennen, denn vor ein paar Tagen hatte er erst seinen fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert. Er war mit vielen Ehrungen und einem Orden ausgezeichnet worden.
Und nun sollte er krank sein? Dr. Norden konnte sich das gar nicht recht vorstellen, denn der Senior der Familie war eigentlich der Einzige, der seine Hilfe nie beansprucht hatte.
Sein Sohn, der traditionsgemäß ebenfalls Martin hieß, hatte Dr. Norden angerufen, und seine Stimme hatte sehr besorgt und erregt geklungen. Schnell hatte Daniel nach seinem Arztkoffer gegriffen und war bald am Ziel.
Das Haus der Deckerts war ein schöner alter Bau, fast ein kleines Palais, gebraucht hatten es die Deckerts, denn in jeder Generation hatte es eine beträchtliche Zahl von Kindern gegeben. Ein großer gepflegter Park, wie man ihn heute in dieser Villengegend nur noch selten sah, umschloss den zweistöckigen lang gestreckten Bau. Die Auffahrt war hell erleuchtet.
Dr. Norden wurde schon erwartet. Rosalie, die Schwiegertochter des Erkrankten, war sehr blass und hatte Tränen in den Augen.
»Vater geht es sehr schlecht, Herr Doktor«, flüsterte sie.
Er folgte ihr durch die weitläufige Halle zu dem Raum, der am Ende des Ganges lag. Martin, Rosalies Mann, saß am Bett seines Vaters und hielt dessen Hand. Der Ältere atmete keuchend.
Dr. Norden fragte nicht viel. Er hatte sofort erfasst, wie ernst der Zustand des Kranken war. Er schloss die kleine Sauerstoffflasche an, die er für Notfälle immer dabei hatte.
»Was soll das?«, murmelte der Kranke, als er ihm die Maske leicht aufdrückte.
»Bitte durchatmen«, sagte Dr. Norden. Leise gab er Order, dass Rosalie aufpasste, während er eine Injektion aufzog, denn Martin Deckert ließ die Hand seines Sohnes nicht los. Bläulich weiß waren die Finger, die die nervige Hand des Jüngeren festhielten.
Die Injektion selbst schien der Kranke nicht zu spüren.
»Halt alles zusammen, mein Junge«, sagte er mit schwacher Stimme, als Dr. Norden die Sauerstoffmaske wieder abgenommen hatte. »Es muss weitergehen, hörst du?«
Dr. Norden tauschte einen langen Blick mit Rosalie. Martin Deckert junior machte einen völlig benommenen, geistesabwesenden Eindruck. Wer die beiden kannte und wusste, wie gut sich Vater und Sohn verstanden, konnte das verstehen. Dr. Norden wusste es, aber er sah auch, dass das Leben des Martin Deckert senior an einem hauchdünnen Faden hing.
Er gab Rosalie einen Wink, und sie folgte ihm zur Tür.
»Es ist ein Infarkt«, sagte Dr. Norden leise. »Ich halte es für dringend notwendig, dass er in die Klinik gebracht wird.«
»Das wäre sein Ende«, gab sie bebend zurück.
Ob klinische Betreuung dieses Leben retten konnte, vermochte Daniel Norden allerdings nicht zu sagen, aber jedenfalls konnte man dort immer noch mehr tun als hier.
Daniel horchte wieder das Herz ab und maß den Blutdruck. Der Kranke war jetzt bewusstlos.
»Ich bin dringend dafür, Ihren Vater in die Klinik zu bringen, Herr Deckert«, sagte Daniel mit ernstem Nachdruck. »Er wird es jetzt nicht merken.«
»Aber wenn er aufwacht«, erwiderte Martin, »und dann …, nein, daran wage ich gar nicht zu denken.«
»Der Zustand Ihres Vaters ist äußerst ernst. Es besteht akute Lebensgefahr«, sagte Daniel.
»Aber warum denn nur? Er war doch den ganzen Tag auf den Beinen. Nichts hat man ihm angemerkt.« Martin Deckert junior sah verzweifelt aus.
»Es ist ein Herzinfarkt, so wenig vorausschaubar wie ein Unfall«, sagte Daniel. »Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kann das kommen.«
»Er hat sich über Ulla aufgeregt«, stieß Martin bitter hervor.
»Er hat sich nie geschont«, sagte Rosalie leise. »Oh, mein Gott, was kann man nur tun?«
Gar nichts mehr konnte man für Martin Deckert tun, obgleich er doch noch in die Klinik gebracht wurde und sich drei Ärzte um ihn bemühten. Im Morgengrauen verlöschte sein Leben. An seinem Bett standen Martin und Rosalie und weinten. Sie hielten sich umschlungen, und ihre Tränen vermischten sich.
Die anderen Kinder des eben verstorbenen Martin Deckert, Henrik, Birgitta und Ursula tanzten auf einer Party in Salzburg.
Völlig erschöpft kam Daniel Norden heim. Nur zwei Stunden konnte er schlafen, dann musste er wieder in seine Sprechstunde.
Fee Norden brauchte nicht zu fragen. Sie hatte ihren Mann nur angeschaut und wusste, was geschehen war.
»Ich habe es befürchtet«, sagte sie leise, dann nahm sie die Hand ihres Mannes und sagte zärtlich: »Du musst ein bisschen schlafen, Liebster.«
*
Martin und Rosalie hatten keinen Schlaf finden können.
»Was soll nun werden, Tino?«, fragte Rosalie leise.
Er verbarg sein Gesicht hinter den Händen. »Sie tanzen, während Vater stirbt. Womit hat er das verdient?«
Rosalie wollte sagen, dass sie das nicht hätten wissen können, aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen. Sie wusste doch, dass die drei anderen sich dieses Fest auch nicht hätten entgehen lassen, wenn der Zustand des Vaters schon so beängstigend gewesen wäre.
»Ruh dich aus, Tino«, bat sie. »Es kommen anstrengende Tage.«
»Für dich etwa nicht? Du hast ihn gerngehabt.«
»Sehr gern«, erwiderte sie. »Wir werden ihn sehr vermissen. Ich weiß nicht, wie ich es den Kindern erklären soll. Micky wird es noch nicht verstehen, aber Martin und Philipp …«, ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr, ging in leises Schluchzen über. Aus tränenverschleierten Augen sah sie ihren Mann an. Sie sah die Verzweiflung in seinem Gesicht, und da nahm sie sich zusammen, denn sie wusste, dass sehr viel auf ihn zukommen und nun noch mehr auf seinen Schultern lasten würde.
Martin war der Älteste von fünf Geschwistern. Er hatte immer eine Sonderstellung bei seinem Vater eingenommen, und das nicht nur, weil er ihm am ähnlichsten gewesen war. Auch der jüngste Sohn Christian war ihm sehr ähnlich gewesen. Er war im Alter von sechzehn Jahren auf einer Bergtour, die er mit seiner Schulklasse machte, tödlich verunglückt. Hermine Deckert, ohnehin kränkelnd, hatte den Tod ihres Jüngsten nicht verwunden. Man konnte wohl sagen, dass sie an gebrochenem Herzen gestorben war.
Henrik hatte früh geheiratet und war nach zwei Jahren wieder geschieden worden. Kinder gab es aus dieser kurzen Ehe nicht, und das war nach Meinung des »alten« Deckert nur gut gewesen. Henrik genoss seine wiedergewonnene Freiheit und tat im Betrieb nur das Notwendigste.
Birgitta, jetzt dreißig Jahre alt, zeigte keine Neigung zur Ehe. Sie war eine bekannte Turnierreiterin und der Meinung, dass Kinder nur eine Belastung wären.
Ulla