Mami Bestseller 55 – Familienroman. Myra Myrenburg

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Mami Bestseller 55 – Familienroman - Myra Myrenburg Mami Bestseller

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auf die Uhr. »Jetzt könnte allmählich der große Meister erscheinen.«

      Und schon stolperte er herein, Jonas, der alte Clown. Noras Herz wurde warm bei seinem Anblick. Einer der ganz Großen, dieser kleine alte Mann mit dem breit geschminkten Mund und den treuherzigen Augen. Einer von denen, die Königen die Hand geschüttelt und von Präsidenten empfangen worden waren. Und der trotzdem seinem alten Zirkus die Treue hielt, obwohl er woanders Triumphe hätte feiern können. Der bei Stargast blieb, weil Stargast ihn dereinst von der Landstraße aufgelesen hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Nicht der jetzige Direktor, nein, dessen Vater, der leider längst in Palermo begraben lag.

      Aber Jonas konnte sich nicht trennen, hier war sein Standquartier, hier, in einem nur mittelmäßigen Zirkus, den er mit seinen eigenen Lorbeeren nun vorwärtszubringen gedachte.

      Und das, dachte Nora, als sie ihn ohne Ressentiment kritisch betrachtete, wird er wohl spätestens in einem Jahr geschafft haben.

      Nanu, ging es Nora durch den Kopf, während sie den braunen Nerz fester um die Schultern zog, denn es war empfindlich kalt geworden an diesem Märzabend im zugigen Zirkuszelt, wo bleibt denn unser Kleiner?

      Gleichzeitig richtete sie sich etwas auf, um nach Wendi Ausschau zu halten. Aber da saß sie ja noch, in der vordersten Reihe, wie immer, neben Direktor Stargast und diesem Pierre.

      Pierre Alsass, jetzt fiel es Nora wieder ein. Ein fähiger junger Mann. Ein bißchen zu geschäftstüchtig, nicht genügend Fingerspitzengefühl – bis jetzt. Aber das würde er schon lernen, weil’s anders gar nicht ging in diesem Beruf. Ach ja, der würde seinen Weg machen.

      Die Pferde tänzelten in die Manege, und hinter ihnen tänzelte im bunten Clownsgewand Alexis, der jüngste

      Clown des Hauses, derjenige, um dessentwillen Nora Lippit ihren gemütlichen Sofaplatz heute abend mit einer harten Holzbank vertauscht hatte.

      Seit Weihnachten hatte sie vorgehabt, ihn einmal in Augenschein zu nehmen. Aber dies hier war erst die zweite Vorstellung in diesem Jahr gewesen, und vorher hätte sie inoffiziell erscheinen müssen, wenn sie ihn sehen wollte. Beim Training höchstens. Und Nora Lippit hatte keine Lust gehabt, ihr Interesse an dem jungen Mann so auffällig zu bekunden.

      Sie wußte, worauf sie zu achten hatte.

      Gutes Material, dachte sie zufrieden und nickte vor sich hin. Er verstand es, richtig zu fallen, was ungemein wichtig war. Ein anderer hätte sich bei diesen komischen und erheiternden Stürzen das Genick gebrochen.

      Nicht so Alexis!

      Mit ein bißchen Protektion, dachte Nora sachlich weiter, kann er es weit bringen. Er hat das Zeug dazu, er ist ein Komödiant. Einer, dem die Manege die Welt ist, dem der Staub die beste Luft zum Atmen und das Zirkuszelt der Himmel ist.

      Der Junge, dachte Nora, der Junge ist echt. Ein Komödiant. Sein Lachen, seine Gesten, sein Talent für die Komik sichert ihm den Aufstieg. Mit Pferden umgehen, das kann er seit Jahren. Soviel sieht man gleich. Aber er wird mehr lernen müssen, Artistik, Seil, Balance. Nun, er ist jung. Er hat noch alles vor sich. Alles?

      Nora Lippit stand langsam auf, schlich sich durch die linke Reihe hinter einen Pfosten und blickte aufmerksam in das Gesicht des Clowns, das jetzt ganz nah, dicht vor ihr auftauchte.

      Er lachte. Und er legte dabei die Stirn in Falten wie ein Greis oder wie ein Baby – und er wiegte den Kopf wie einer, der hundert Jahre Weisheit erfahren hat.

      Er lachte.

      Nora Lippit lehnte an dem hölzernen Pfosten und starrte in den aufgewirbelten Sand der Manege.

      Da stand sie noch, als der Clown sich längst auf eines der zotteligen Pferd­chen geschwungen und unter jubelndem Beifall hinter dem Vorhang verschwunden war.

      Mit einer unsagbar müden Bewegung stieß sich Nora von ihrer Stütze ab, langsam und geistesabwesend ging sie den schmalen Gang hinunter der offenen Tür zu und setzte sich in ihr Auto.

      Mechanisch ließ sie den Motor an, wischte die Scheibe von innen blank und dachte: Fedor hat recht behalten. Alexis. Er ist Alexis. Und er wird keine einzige Chance haben, keine einzige.

      Er wird über diesen Zirkus nicht hinauskommen, wo er mit so viel Mühe hineingekommen ist. Keine Chance, nein. Und dabei ist er ein echter Clown, ein guter Clown, einer, der es in sich hatte, von Anbeginn. Mit diesen Augen, die lachen und weinen zugleich, ein Komödiant eben. Ja. Fünfundzwanzig Jahre alt, und er weiß mehr über das Leben als mancher mit hundert.

      Der Wagen rollte über den nassen ­Asphalt.

      Es hatte geregnet, es war ein nasser, kalter Frühlingsabend.

      *

      Lisette war schlafen gegangen. Im Kamin brannte das Feuer schwach.

      Nora goß sich die zarte chinesische Tasse voll duftenden heißen Tee, der im Silberkessel bereit stand.

      Dann trat sie ans Telefon, wählte eine Nummer, die sie im Schlaf kannte, und sagte: »Du hast recht behalten, Fedja. Er ist es. Wie hat er das bloß geschafft?«

      Die Stimme am anderen Ende sagte etwas, was Nora trocken auflachen ließ.

      Dann hängte sie den Hörer ein und tat das, was sie heute schon in der Dämmerung getan hatte.

      Sie setzte sich ans Fenster des kleinen Speisezimmers und starrte hinaus in die unbelaubten Bäume des Kurparks.

      Der Kurpark war in der Form eines Rondells angelegt, mit Springbrunnen inmitten grünender Rosenbüsche.

      Sie sah es nicht. Aber sie ahnte es deutlich: einen Kilometer weiter, in einer kleinen Weinstube, legte gerade jetzt ein junger Mann im dunkelblauen Anzug den Arm um Wendi, keine besitz­ergreifende, eher eine zufällig wirkende Geste. Und ihre runden Kinderaugen strahlten ihn an wie zwei Sterne, während rechts und links und gegenüber die Kameraden vom Zirkus ihren Wein bestellten, redeten, Pläne schmiedeten, unter ihnen Jonas, der alte Clown, und Pierre, der junge Agent.

      »Alexis«, murmelte Wendi, und wer auch immer ihr zutrinken und mit ihr lachen würde, sie sah nur den einen, diesen einen, und was die anderen dachten, das war ihr egal.

      »Wann zieht ihr weiter?« fragte sie halblaut.

      »Der Zirkus? Mal sehen, ich glaube, in zehn Tagen geht’s los. Wir treten hier noch einmal auf, dann bauen wir ab. Aber es wird eine Weile brauchen, bis alles reisefertig ist. So ein Winterquartier löst sich nicht so schnell auf, weißt du…«

      »Dann sehe ich dich nur noch einmal«, flüsterte Wendi und legte die kleine Hand um den Stiel ihres Weinglases, »und dann?«

      »Warum nur noch einmal« fragte er leise und lächelnd zurück. »Wir können ja noch ein bißchen was dazwischenschieben, meinst du nicht auch? Oder bist du immer beschäftigt?«

      »Ich?« Wendi stieß fast das Glas um.

      »Ich bin so gut wie nie beschäftigt. Wenn ich nicht dieses dumme Studium an Hals hätte, ich wäre die reinste Drohne. Du hast’s gut, du hast ein Talent, einen Beruf, ein Ziel, aber ich dagegen…«

      »Ja, ja«, sagte er leichthin und legte den Finger auf ihre Nasenspitze, »ich bin ein gemachter Mann, ein kommender Mann, einer, der für die Manege geboren ist.«

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