Reisen nach Ophir. Rolf Neuhaus
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Das Geschäft über 5000 Francs kam nicht zustande, obendrein verfiel Theo van Gogh, der Gauguin häufig unterstützt und viel unternommen hatte, um den Verkauf seiner Bilder anzukurbeln, nach dem Selbstmord seines Bruders Vincent dem Wahnsinn. Das war »ein entsetzlicher Schlag« für Gauguin, sein Madagaskar-Mayotte-Tahiti-Traum schien sich aufzulösen. Er organisierte eine Versteigerung seiner Werke, rührte die Werbetrommel, sogar in England wurde man auf ihn aufmerksam, die Auktion verlief glücklich, wenn auch in kommerzieller Hinsicht nicht übermäβig erfolgreich, doch der künstlerische Erfolg war nach Ansicht Gauguins »immens und wird in kurzem seine Früchte tragen«. Er ersuchte das Ministerium für Unterricht und Schöne Künste um Unterstützung, wurde mit der offiziellen, ebenso unbesoldeten wie unbestimmten künstlerischen Mission betraut, den Charakter und das Licht Tahitis zu erforschen, erhielt vom Staatssekretär für Kolonien eine verbindliche Empfehlung an den Gouverneur Französisch-Polynesiens, von der Schifffahrtsgesellschaft eine Fahrpreisermäβigung und vom Direktor der Schönen Künste die mündliche Zusage für den Ankauf eines Bildes nach seiner Rückkehr. Bevor er – ohne Bernard – nach Tahiti aufbrach, sah er Frau und Kinder in Kopenhagen wieder und schrieb, zurück in Paris, seiner »angebeteten Mette«, er ginge einer gesicherten Zukunft entgegen, und er werde sehr glücklich sein, wenn Mette bereit sei, die Zukunft mit ihm zu teilen. Er werde in den kommenden drei Jahren eine Schlacht schlagen, nach deren siegreichem Ausgang sie in Sicherheit leben könnten, »wenn ich zurückkomme, werden wir uns wieder verheiraten«. So schrieb er, während er seit Monaten mit einer Geliebten zusammenlebte, der er ein Kind machte. Seine Freunde gaben Gauguin noch ein Abschiedsbankett unter Vorsitz Mallarmés, dann nahm er den Nachtzug nach Marseille.
Im gleichen Jahr, in dem Rimbaud in Marseille starb, begann Gauguins polynesisches Leben. Nach zehnwöchiger Überfahrt mit Stationen in Aden, im französischen Mahé auf den Seychellen, in mehreren Häfen Australiens und in Nouméa (Neukaledonien) landete er Anfang Juni 1891 in Papeete. Gauguin kam 100 Jahre zu spät. »Dies war ja Europa – das Europa, von dem ich mich befreit zu haben glaubte –, nur noch vergröbert durch die Spielarten des kolonialen Snobismus und eine kindliche, bis zur Karikatur groteske Nachahmerei. Das war es nicht, was ich gesucht hatte«, schrieb er in seinem autobiografischen Bericht Noa Noa. Marinesoldaten, Matrosen von Walfängern, Deserteure wie Herman Melville, Abenteurer, Strandläufer, Missionare hatten Feuerwaffen, Alkohol, ansteckende Krankheiten und christliche Tugenden eingeschleppt, die Europäer hatten einen der acht Stammesfürsten Tahitis, Pomare I., gegen andere Stämme militärisch unterstützt und als König der gesamten Insel anerkannt, Pomare II. zum rechten Glauben bekehrt und ihm einen von anglikanischen Missionaren ausgeklügelten Katalog drakonischer Strafen für unchristliche Praktiken wie Götzenverehrung oder Unzucht zur Unterzeichnung vorgelegt. Als die französisch-katholische Konkurrenz auf den Plan trat und vom britischen Konsul, einem Missionar, ausgewiesen wurde, erschien die französische Fregatte »Reine Blanche« unter Konteradmiral Du Petit-Thouars auf der Bildfläche, und la Grande Nation nahm 1842 Tahiti als Protektorat unter ihre Fittiche, schlieβlich dankte Pomare V. 1880 ab, der ganze Archipel der Gesellschaftsinseln war nun französische Kolonie. Als Gauguin in Papeete eintraf, lag der pensionierte König gerade im Sterben, er wurde begraben und mit ihm die Tradition Tahitis; die Zivilisation – Militär, Verwaltung, Kirche, Handel – triumphierte. »War ich einen so langen Weg gekommen, um dies zu finden, eben dies, vor dem ich geflohen war? Der Traum, der mich nach Tahiti geführt hatte, wurde von der Gegenwart grausam zerstört: Es war das Tahiti der Vergangenheit, was ich liebte«, das romantische, exotische Tahiti aus Pierre Lotis Erfolgsroman Le Mariage de Loti von 1880 zum Beispiel.
Enttäuscht und »angeekelt von dieser ganzen europäischen Banalität« entschloss sich Gauguin, Papeete zu verlassen, um das Echte und Schöne der tahitianischen Kultur zu suchen, das sich unter dem »unpassenden Putz unserer Importe« erhalten haben mochte. Doch vorher musste er sich noch ins zivilisatorische französische Hospital begeben, er spuckte Blut, einen Viertelliter pro Tag. Der Arzt verordnete Senfumschläge für die Beine, Schröpfköpfe für die Brust und eine Digitaliskur gegen Herzschwäche, Gauguin schrieb zwar, dass es sich um die Überbleibsel einer Bronchitis handele, die er sich im Winter in Paris zugezogen habe, doch es war wohl ein erneuter Ausbruch jener venerischen Krankheit, die man Gauguin vor seiner Abreise aus Europa noch in Paris diagnostiziert hatte. Als er wieder auf den Beinen war, nahm er Titi an die Hand und ging mit ihr in den Busch, um ganz wie die Eingeborenen zu leben. Titi war eines jener gefälligen leichten Mädchen, die mit der Geschmeidigkeit und Anmut gesunder junger Tiere, mit schwingendem Hintern, spitz vorgestreckter Brust und einer wohlriechenden Blüte im Haar oder hinter dem Ohr barfuβ durch den Straβenstaub patschten. »Diesen Frauen von Tahiti liegt allen die Liebe so sehr im Blut, ist so sehr ein Teil ihres Wesens, dass sie, eigennützig oder uneigennützig, immer Liebe ist.« Unpassenderweise war Titi nicht gerade ein Ausbund an Reinheit und Schönheit des tahitianischen Menschenschlags, vielmehr halb Engländerin und halb Maori und nicht mehr ganz jung, aber sie wollte bei Gauguin bleiben und mit ihm in die Wildnis gehen, sprach praktischerweise auch etwas Französisch.
Die Hütte, die Gauguin im Bezirk von Mataeia an der Südküste mietete, 45 Kilometer von Papeete entfernt, lag zwischen dem Meer und einem ungeheuren Spalt im zerklüfteten Gebirge mit einem Mangohain davor. Zwischen Gauguin und dem Himmel war nichts weiter als das hohe, leichte Dach aus Pandanusblättern, über dem er nachts Mond und Sterne stehen sah. Tagsüber stand Titi zwischen ihm und dem Himmel. Er begann zu arbeiten, Material zu sammeln, Skizzen, Studien, Notizen zu machen, nicht nach dem Bild, das die Natur ihm zeigte, vor allem blickte und suchte er in sich selbst. Derweil langweilte Titi sich und redete zu viel, dies war nicht ihre Welt, sie war den städtischen Betrieb, die Schmeicheleien und den Luxus der französischen Kolonialbeamten gewohnt, Gauguin wurde ihrer überdrüssig, sie trennten sich. Monatelang sprach er kein Wort Französisch, nur die paar aufgeschnappten Brocken Tahiti-Maori mit seinen Nachbarn, die ihn nicht verhungern lieβen, hier konnte man für Geld nichts kaufen, musste alles aus der Natur holen, doch die Bananen wuchsen nicht in den Mund und die Fische sprangen nicht an Land, man musste in die Berge steigen und mit den Stauden auf dem Rücken zurückkehren, auf den Meeresgrund tauchen und die Muscheln von den Steinen lösen, musste wissen, wie man Fische fängt und auf hohe Bäume klettert, um eine Kokosnuss zu pflücken. Nicht die braunhäutigen Eingeborenen mit ihren Kannibalenkiefern, die ihm Essen brachten oder ihn einluden, waren hier die Wilden, sondern Gauguin, der weder die einfachsten Handgriffe noch Sprache und Sitten kannte. Nach dieser Logik zivilisierte er sich, während die westliche Verwilderung von ihm abfiel. Er begann, unkompliziert zu denken, sich von Hassgefühlen, Eitelkeit, innerer Unruhe und allem Erkünstelten zu befreien, wie er sich der Kleidung entledigte. Er ging barfuβ wie die Eingeborenen und nur mit einem geblümten Baumwolltuch um die Lenden, also nackt bis auf die Hauptsache, die die Frauen nicht sehen mochten, wie sie sagten. Wenn er nicht arbeitete, teilte er das Müβiggängerdasein seiner Nachbarn und lernte ihre Sprache. Abends versammelten sie sich in einer Art Gemeinschaftshütte oder unter den Kokospalmen, um zu plaudern und zu singen, die matten Farbtöne ihrer Körper passten gut zu dem Samt des Buschlaubs, und aus der bronzefarbenen Brust einer Sängerin stiegen schwingende Melodien und leidenschaftliche Schreie auf. Gauguin wurde fast einer von ihnen, trotzdem fühlte er sich einsam.
Er unternahm eine Reise zu Pferd, das ihm ein Gendarm lieh, zog an der Ostküste entlang, ein Eingeborener lud ihn in seine Hütte ein, eine Maori fragte ihn beim Essen, wohin er wolle und was er dort vorhabe, und Gauguin verriet ihr spontan den wahren, bis dahin ihm selbst vielleicht unbewussten Zweck seiner Reise: eine Frau für sich suchen. Und die Maori sagte: Ich gebe dir meine Tochter. So unkompliziert war das. Die Tochter hieβ Tehura und war ein Mädchen von vielleicht 13 Jahren, eine Kindfrau, die von den Tonga-Inseln abstammte. Tehura folgte dem Pferd zu Fuβ, unterwegs machten sie Halt in einer groβen, reich ausgestatteten Hütte, in der Tehuras zweite Mutter wohnte, ihre Ziehmutter, die Gauguin fragte, ob er Tehura glücklich machen werde. Ja. Sie gab ihm Tehura zur Probe mit, nach acht Tagen sollte er sie zurückschicken, und sie werde nicht zu ihm zurückgehen, wenn sie mit ihm nicht glücklich sei. Tehura ging nach acht Tagen und kehrte wenig später in Gauguins Hütte zurück. Und so begann »das vollkommen glückliche