Platzspitzbaby. Franziska K. Müller

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Platzspitzbaby - Franziska K. Müller

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schützen, und der Umstand, dass ich mehrheitlich auf mich allein gestellt durch den Alltag kutschierte, gefährdete mein Wohlergehen in der abgeschiedenen Idylle nicht.

      Das Landleben begeisterte mich mehr als alles und entschädigte mich für vieles: Ich liebte das alte Holzhaus mit den knarrenden Treppen, den schlecht isolierten, winzigen Fenstern und dem großen Kachelofen, der eingeheizt werden musste. Brachte man den Holzvorrat nicht rechtzeitig ein, blieb es im Winter bitterkalt, dafür wehte auch während der heißesten Sommertage eine kühle Brise durch die vielen Ritzen des Hauses. In der Stadt schränkten später Zäune und Verbotsschilder meinen starken Bewegungsdrang ein. Hier rannte ich einfach los, über Felder und Wiesen, stundenlang, bis ich außer Atem zusammenbrach, keuchend liegen blieb, den Himmel betrachtete und die vorbeiziehenden Wolken. Ruhe erfüllte meinen Körper, und ich dachte an nichts. Ich besaß einen Plüschbären, eine Angelrute, ein paar verbeulte Spielzeugautos und eine selbst gebastelte Puppenstube. Mangels Achtsamkeit wurde geduldet, dass sich die Katzen in unserem Haus unkontrolliert vermehrten. Auch ein Meerschweinchen, ein Hase und mein Hund trösteten mich darüber hinweg, dass es an gemeinsamen Aktivitäten mit den Eltern nun gänzlich mangelte.

      Ich entdeckte die Natur: Zum Hausteil gehörte ein Garten, der sich bei unserem Einzug gepflegt präsentiert hatte, mit geordneten Rabatten, zurechtgeschnittenen Sträuchern sowie einem Gemüsebeet, das Papa mit Pflastersteinen umrandet und zu meinem Terrain erklärt hatte. Im Haus empfand ich die fortschreitende Verwahrlosung als unpraktisch und trostlos, doch den Garten schmückte die Wildheit zusätzlich. Der alte Aprikosenbaum stand meist in kniehohem Gras. Im Schatten des Dickichts wuchsen aromatische Waldbeeren, winzige Veilchen, und die Kräuter wucherten dermaßen üppig, dass der Duft von wilder Pfefferminze den ganzen Garten parfümierte. Bereits als kleines Kind interessierte mich die Vergänglichkeit der Natur. Stundenlang saß ich vor einer verdorrenden Blüte, die, in sich gekehrt, das Ende des Herbsts ankündigte, und zwei Monate später war die Pflanze schneebedeckt. Im Frühjahr begleitete ich dieselbe Blume ins Leben zurück, und das scheinbar Traurige erhielt eine neue Bedeutung für mich: So wie es schien, kam das Dasein nicht ohne gegensätzliche Kräfte aus, und die Destruktion war nicht immer endgültig, sondern konnte den Auftakt zur Erneuerung bilden.

      Und so schockierte mich auch der Umgang mit den Nutztieren auf dem Nachbarhof nicht. Bei der Geburt eines Kälbchens durfte ich mithelfen und dem pelzigen Bündel das erste Milchfläschchen ansetzen. Nach mehreren Sommern auf der Weide und nachdem sie im Winter die gesamte Heuernte vertilgt hatten, wurden die gleichen Tiere, die bis anhin glücklich vor sich hin gelebt hatten, ihrem Schicksal zugeführt, worauf sie manchmal als schmackhafte Erzeugnisse, zum Beispiel in Form eines Wurstzipfels, in meinem Mund landeten. Diesem überraschenden Leckerbissen konnte ich nur Positives abgewinnen, aber auch im Kreislauf der Natur erkannte ich keine Grausamkeit, sondern eine gewisse Richtigkeit, den für mich verständlichen Lauf der Dinge. Ich schärfte meinen Verstand in ehrlichen Gesprächen mit Vater, ansonsten aber mehrheitlich allein. Da ich weder Lob noch Tadel zu hören bekam, bildete ich mir in einem Alter, in dem die Gedanken frei sind und der Blick unbestechlich, manches Urteil. In vielen Begebenheiten erkannte ich bald einen versteckten Sinn, in anderen Handlungen sofort die schlechte Absicht. Ohne elterliche Autorität, die mich beaufsichtigte, schützte, förderte, mir aber auch keine Verbote und Einschränkungen auferlegte, entwickelte ich mich zu einem eigenständigen Wesen. Ich war kein kleines Kind mehr und erkannte auch, dass die wichtigsten Fragen nicht von den Erwachsenen, sondern von mir selbst beantwortet werden mussten.

      Nicht zu wissen, aus welchen Gründen Mutter sich selbst und unsere Familie zerstörte, wieso sie keine Verantwortung für ihre Handlungen übernahm und meine diesbezüglichen Fragen mit Ausreden quittierte, beelendete mich lange Zeit. Eines der wenigen Geschenke, die sie mir machte – eine Ausgabe des »Kleinen Prinzen« –, öffnete mir in diesem Punkt die Augen: Auf seiner Reise über die Planeten begegnet der kleine Prinz einem Mann, der stumm vor einer Reihe leerer Flaschen und einer Reihe voller Flaschen sitzt. »Was machst du da?«, fragt er den Säufer. »Ich trinke«, antwortet dieser mit düsterer Miene. »Warum trinkst du?«, will der kleine Prinz wissen. »Um zu vergessen«, antwortet der Säufer. »Um was zu vergessen?«, erkundigt sich der kleine Prinz. »Um zu vergessen, dass ich mich schäme«, gesteht der Säufer mit gesenktem Kopf. »Und weshalb schämst du dich?«, erkundigt sich der kleine Prinz, der den Wunsch verspürt, dem traurigen Mann zu helfen. »Weil ich saufe«, erklärt der Säufer und verfällt in missmutiges Schweigen. Der kleine Prinz verstand, so wie ich als Drittklässlerin zu verstehen begann. Ich erkannte Mutters Kraftlosigkeit, ihr Selbstmitleid, das mangelnde Verantwortungsgefühl, und ab diesem Zeitpunkt bekämpfte ich diese Defizite in meinem eigenen Verhalten aktiv. Bedroht und negiert von einer Person, die dem Tod bald näher stand als dem Leben, hätte man annehmen können, dass ich den Drang verspürte, Entsetzen und Demütigungen in der einen oder anderen Weise weiterzugeben. Aber so war es nicht. Meine innere Reißleine funktionierte immer. Bereits als Primarschülerin erkannte ich, wenn ich etwas falsch gemacht, mir selbst oder anderen Schaden und Schmerz zugefügt hatte, und es wurde mir unmöglich, dieses Verhalten zu wiederholen.

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