Platzspitzbaby. Franziska K. Müller
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Innerhalb weniger Monate veränderte sich ihre Persönlichkeit. Während ihr Äußeres in hübsche Kleider gehüllt blieb, die Lippen manchmal noch rot schimmerten, die Augen mit Kajal umrandet waren, wurde sie krankhaft egomanisch und zunehmend unberechenbar im Umgang mit Vater und mir. Wie die meisten Junkies schreckte sie vor keiner Lüge, keinem Diebstahl und keinem Verrat zurück, um ihre Sucht zu befriedigen. Die Ersparnisse längst heimlich für den Drogenkauf entwendet, betrog sie Vater in den folgenden Jahren um den hart erarbeiteten Lohn und meine Großmutter um Zehntausende von Franken. Oma tolerierte das längst auffällige Verhalten ihrer Schwiegertochter, damit die Verbindung zu Sohn und Enkelin nicht abbrechen möge. Sie blieb nebst meinem Vater die einzige verlässliche Bezugsperson in meinem Leben. Die wenigen verbliebenen Kontakte zu Erwachsenen brachen in den folgenden Monaten ab, sogar Mamas geliebte Schwester, die es trotz der widrigen Umstände in der Kindheit zu Wohlstand und Ansehen gebracht hatte, distanzierte sich von uns. Den Kindern im Dorf wurde der Aufenthalt bei mir zu Hause bald verboten, und ich selbst war kein gern gesehener Gast mehr bei meinen Kollegen. Die desolaten Zustände im Hause Halbheer drangen immer öfter nach außen und setzten offensichtlich auch den Hartgesottenen zu, vielleicht distanzierten sie sich auch aus Angst, Faulheit oder Feigheit.
Allein Oma hielt zu uns. Sie litt für mich und für ihren Sohn, dem das Leben ebenfalls entglitt, dessen Kraft nach arbeitsreichen Tagen kaum ausreichte, um das Kind zu versorgen, die Frau zu zähmen, die jetzt auch tagelang verschwand. Einmal reinigte Großmutter die in Chaos und Dreck versinkende Wohnung. Zehn Stunden lang. Mutter duldete diese Hilfeleistung so lange, bis die letzte Mülltüte entsorgt und die Putzeimer scheppernd verstaut waren. Danach erschien sie verschlafen und mit wirrem Haar auf dem Treppenabsatz, beschuldigte, beleidigte und bedrohte Großmutter so ausgiebig, bis diese heftig schluchzend das Haus verließ. Doch sie kam wieder. Oma blieb mein Ein und Alles. Sie entschädigte mich für vieles: Falsches Mitleid für meine Situation kannte sie nicht. Sie half mir durch ihre schnörkellose Präsenz, zeigte mir, was Menschlichkeit und Empathie bedeuten. Sie erzählte mir Geschichten und kochte mein Lieblingsessen. Sie tat, was ich später verlernte und wofür mir bereits als kleines Kind die innere Ruhe fehlte: Sie spielte mit mir und ermunterte mich, eigene Fantasiewelten zu kreieren. Sie gab mir damals die Stärke, um alles, was noch kommen sollte, durchzustehen, und im Nachhinein betrachtet, ist es auch ihrer Liebe zu verdanken, dass ich meine Kindheit überlebte. Die einzige Unterstützung wurde mir – ein Jahr nach dem folgenschweren Fund – durch jene Person geraubt, der ich inzwischen gleichgültig zu sein schien.
Mein siebter Geburtstag wurde mit einer Torte nachgefeiert, die nicht Mama gebacken hatte, und das entsprechende Bild in meinem Album lässt nicht erahnen, was sich wenige Tage zuvor ereignet hatte: Oma war mit mir in die nächstgelegene Stadt gereist. In den Auslagen des teuersten Schuhgeschäfts lagen winzige Lackschuhe mit goldenen Schnallen, Stiefeletten mit Knöpfen und Pantoffeln aus purpurfarbenem Plüsch. Im Stuhl sitzend, blickte ich auf meine zerschlissenen Turnschuhe. Scham und Vorfreude mischten sich bei der Anprobe weißer Riemchensandalen, die mit ausgestanzten winzigen Schmetterlingen aus echtem Leder verziert waren. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen. Ich bezweifelte, ob ein solcher Luxus für mich bestimmt sein könnte. Doch Großmutter bestand auf den Kauf, und als wir nach Hause fuhren, trug ich das kostbare Geschenk bereits an den Füßen. Daheim angekommen, verstrichen keine fünf Minuten, als draußen eine Autotür knallte. Mutter verfügte über einen siebten Sinn, wenn mir etwas Gutes geschah, das sie mir nicht bieten wollte und mir in der Folge immer häufiger auch verdarb. Die Gründe für ihre unberechenbaren Zustände ließen sich auch mit viel Erfahrung nicht entschlüsseln, da sie längst keinen verbindlichen Regeln mehr folgten. Was ich hingegen blind erkannte, war ihre Aura, wenn sie Ungutes erahnen ließ, was sich in einer übermäßig aufrechten und ausladenden Körperhaltung zeigte, an ihren durchgestreckten Beinen und akustisch am harten Aufschlag ihrer Schritte. Im Wissen um diese Vorwarnung versteckte ich mich jeweils sofort: zu Hause hinter meinem Hochbett, bei Großmutter hinter diversen Möbelstücken. In Anwesenheit von anderen fasste mich Mutter nicht an. Blaue Flecken oder Striemen verbarg ich unter entsprechenden Kleidungsstücken, und aus Angst vor den angedrohten weiteren Bestrafungen erzählte ich niemandem von diesen Züchtigungen, die in der Abwesenheit von Papa stattfanden.
Nun riss Mutter die Haustür auf, schrie meinen Namen, zerrte mich hinter einer Kommode hervor, und obwohl ich auf einiges gefasst war, überraschte mich die Heftigkeit ihrer Wut, die der Blick auf meine Füße provozierte. Die Beschimpfungen steigerten sich zu einem rasenden Tobsuchtsanfall, und schreiend beschied sie ihrer Schwiegermutter, diese habe nicht zu entscheiden, welches Schuhmodell ich zu tragen hätte. Der wahre Grund für die cholerischen Ausfälligkeiten war mir klar: Mutter hatte die hundert Franken für einen anderen Kauf als neue Sandalen für mich einkalkuliert. Da sich Großmutter dem Befehl widersetzt hatte, ihr das Geld in bar auszuhändigen, riskierte Mutter in den kommenden Stunden, auf den »Aff« zu kommen, wie man jenen zitternden und schwitzenden Zustand nennt, wenn der Körper auf Entzug ist. Ihn fürchtet ein Junkie mehr als alles andere, denn die Drogenbeschaffung wird in dieser extremen Verfassung beinahe unmöglich. Der Streit eskalierte in Anwesenheit meines Vaters, und ich realisierte zum ersten Mal, dass meine irrsinnige Mutter nicht nur eine Gefahr für sich selbst, sondern auch für uns darstellte. Schließlich musste die Polizei alarmiert werden, aber anstatt die offensichtlich unter Drogeneinfluss stehende Frau zur Räson zu bringen, die kurz zuvor verkündet hatte, sie nehme mich mit nach Zürich, auf die Gasse, entschieden die Ordnungshüter anders: Ohne Befugnis, wie ich heute weiß, sprachen sie an Ort und Stelle eine definitive Kontaktsperre aus. Zum einzigen Menschen, der mir in Abwesenheit von Papa bisher Trost und Sicherheit vermitteln konnte: Oma.
Bald verbrachte ich die Tage mehrheitlich auf mich allein gestellt. Papas Idee, mich auf die Baustelle mitzunehmen und in den Unterkünften der Arbeiter unterzubringen, erwies sich nicht als dauerhafte Lösung, und manche Fragen forderten Antworten, die er nicht geben konnte: Wo ist deine Frau? Nach wochenlanger Abwesenheit kehrte sie jeweils in desolatem Zustand zurück, den ich nicht zu deuten wusste, der für mich aber nichts mehr mit meiner Mutter zu tun hatte. Trotzdem liebte ich sie weiterhin und geriet – wie ich im Nachhinein sagen muss – in ein starkes Abhängigkeitsverhältnis, blieb ihren Manipulationen, den Drohungen, der Vernachlässigung machtlos und lange Zeit unfähig zur Kritik ausgeliefert. Jahrelang glaubte ich, die Hauptschuld an einem Unglück zu tragen, von dem ich nicht wusste, ob es tatsächlich existierte, und hätte ich den Verrat begangen und meinen Kummer hinausgeschrien: Der Preis für mein Wohlergehen wäre der Tod derjenigen gewesen, die mich geboren hatte.
Schweizer Zeitungen berichteten schon früher regelmäßig von den katastrophalen Zuständen auf dem Platzspitz, und nachdem ausländische Medien auf die offene Drogenszene mit Tausenden von verelendeten Schwerstsüchtigen aufmerksam geworden waren, sorgte der »Needle-Park« auch weltweit für Entsetzen. Mutter hatte in dieser Hölle gefunden, was sie zum Leben benötigte: Sämtliche Drogen waren rund um die Uhr erhältlich und konnten an Ort und Stelle sofort konsumiert werden. Die Abgabe steriler Spritzen war von einem politisch bürgerlichen Lager indes heftig bekämpft worden. Einen solchen Akt betrachtete man als offizielle Anerkennung einer Problematik, der man überfordert gegenüberstand und mit Repression beizukommen versuchte. Mit schlimmen Konsequenzen für jene, die längst durch alle sozialen Raster gefallen waren. Die stumpfen Spitzen der hundertmal verwendeten Injektionsnadeln wurden an einem Schmirgelpapier angeschliffen, danach fanden sie Verwendung in Dutzenden von Armbeugen und Kniekehlen. Die Übertragung von lebensbedrohlichen Krankheiten als Folge dieser Praxis bezeichnete man später als Kollateralschaden einer ratlosen und verfehlten Drogenpolitik, genauso wie die vielen Fixer, die inzwischen tot waren.
Die bedrohlichen und desolaten Zustände in der offenen Drogenszene schlugen sich auch in den damaligen Statistiken nieder: Bis zu dreitausend Mal jährlich führten ambulante Sanitäter in jener Zeit Wiederbelebungsversuche durch, oft vergeblich. Überdosen, Atemstillstände und andere Begleiterscheinungen des Konsums führten dazu, dass illegale Drogen in der Schweiz zur häufigsten Todesursache bei Männern zwischen 35 und 45 Jahren avancierten. Die Räumung des Platzspitzes fand 1992 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion