Platzspitzbaby. Franziska K. Müller
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Auf dem Einband ist eine reich verzierte Wiege mit einem Baldachin aus Spitzenstoff abgebildet: Ein zufriedener Säugling blickt mit großen Augen aus den Kissen. Rundherum fliegen Kolibris, bunt gefiederte Vögelchen und Kirschblüten durch einen frühlingshaften Himmel. »Michelle Halbheer: Geboren am 14. Mai 1985« steht auf der ersten Seite im Innern des Buches mit blauem Filzstift geschrieben. »Fünfzig Zentimeter lang, 3,8 Kilogramm schwer.« Ein gesundes Kind. Die eingeklebte Geburtsanzeige gestaltete die junge Mutter selbst. Aus pinkfarbener Wolle strickte sie winzige Pullover, denen zwei zurechtgeschnittene Zahnstocher als Stricknadeln dienten.
Das dunkelhäutige Baby mit dem weichen Kraushaar schlich sich unverhofft in das Leben der Eltern, seine Ankündigung war ein Triumph, aber auch ein medizinisches Wunder, behauptete Sandrine doch stets, sie könne aufgrund einer Eileitervernarbung unmöglich schwanger werden, was meinen Vater zu einem sorglosen Umgang mit ihr animierte. Doch die Freude über meine Ankunft war dennoch groß, wie mir immer wieder versichert wurde. Das Kind liegt schlafend auf der Brust des stolzen Papas, oder es sitzt zufrieden in einem Kinderstuhl. Sein Heranwachsen wurde in den ersten Monaten in einer Tabelle festgehalten, doch dieses strukturierte Vorgehen entsprach Mutter nicht, und sie ließ es bald bleiben. Festgehalten wurde jedoch mein erstes gesprochenes Wort. In Erinnerung an die entbehrungsreichen Jahre, die folgen sollten, machten sie durchaus Sinn: »mehr«. Die Geschenke, die ich erhielt, wurden minutiös vermerkt: Finklein, ein Plüschbär, den ich noch immer besitze, sowie winzige Ohrringe aus Gold in Elefantenform, die inzwischen auf der Gasse versilbert worden sein müssen. Das erste Blümlein, das ich Mama pflückte, wurde gepresst und eingeklebt, es verschwand im Lauf der Jahre ebenfalls: Ein getrockneter Leimfleck erinnert an diese Geste meiner frühen Zuneigung, die so lange Zeit grenzenlos blieb.
Ich liebte meine Mutter über alles, daran erinnere ich mich mit Schmerz und Wehmut. Sie roch so gut. Sie hob mich in die Luft, und ich vertraute ihr blind. Sie bedeckte mich mit Küssen, umschlang mich mit ihren Armen, maßlos in ihrer Liebe zu mir und immer auf der Suche nach dem Glück, das sie genauso wie das Unglück wie durch eine Lupe stärker und intensiver wahrzunehmen schien als andere Menschen. Die guten Erinnerungen symbolisieren für mich heute den Versuch meiner Mutter, ein normales Leben zu führen. Ein Vorsatz, der fulminanter nicht hätte scheitern können, und die lichten Momente sind heute auch ein trauriger Nachruf auf alles, was mir später abhandengekommen ist.
Meine Eltern zogen nach der Hochzeit in eine kleine Wohnsiedlung an die Peripherie von Zürich. Vaters Wunsch nach einem geregelten und beinahe gutbürgerlichen Leben schien sich zu erfüllen. Die Rasenflächen zwischen den modernen Häusern präsentierten sich sauber und saftig, die übrigen jungen Familien, die dort mit ihren Kindern lebten, gehörten, so ähnlich wie wir, dem Mittelstand an, und die dunkelhäutige Frau mit dem putzigen Baby war ein gern gesehener Gast in den gepflegten Heimen der anderen Mütter. Ich erinnere mich an Ausflüge mit den Eltern, an einen mir endlos erscheinenden Sommer mit einem Planschbecken im Garten und einem Sandkasten, der über Nacht sorgsam abgedeckt wurde. Meine Mutter las mir Geschichten vor und brachte mir die ersten Lieder bei. Die Stimmen meiner Eltern, die sich neckten, stritten und sich später lachend küssten, bleiben mir für immer in Erinnerung.
Vater arbeitete als Akkordmaurer, seine Frau betätigte sich ausschließlich als Hausfrau und Mutter. Sie kochte die besten Rahmschnitzel der Welt. Sie war eine talentierte Strickerin, und meine Garderobe war dementsprechend elaboriert. Einmal buken wir Kekse. Ich durfte Butter, Mehl und Eier verkneten, und zusammen stachen wir aus dem goldgelben Teig Tiere und Sterne aus, die wir allesamt aßen, bevor Papa nichts ahnend nach Hause kam. Die Wohnung, lichtdurchflutet und modern, wurde wöchentlich gereinigt, mein Zimmer war spärlich eingerichtet, jedoch stets ordentlich und sauber. Zu meinem Geburtstag lud Mutter die Kinder der Siedlung ein und servierte eine selbst gemachte Torte. In späteren Jahren sagten die Geladenen weder zu noch ab, blieben jedoch allesamt meinem Fest fern, weil ihnen der Umgang mit mir verboten und mein Zuhause zur Gefahrenzone erklärt worden war.
Die junge Sandrine trug poppige Kleidungsstücke im New-Wave-Stil, und sie war im Besitz einer beachtlichen Sammlung von hochhackigen Schuhen in allen Farben. Die Fotografien zeigen eine hübsche, gepflegte Frau. Nur der Blick – intelligent und widerspenstig – lässt erahnen, dass bald anderes sie beschäftigt haben muss als der bloße Gedanke, wie man Mann, Kind und Nachbarn zufriedenstellt. Ob die Fassade aus bemaltem Karton war, die beim nächsten Windstoß zusammenfallen musste? Wie sah es in ihrem Innern wirklich aus? Waren die geordneten Verhältnisse ein Trugschluss, ein Ignorieren ihrer Persönlichkeit? Nährten die luftigen Gardinen, der akurat geschnittene Rasen, die Routinen und die Rechtschaffenheit den Aufruhr, beschleunigten sie den Drang, alles hinter sich zu lassen? Wie viele Stunden stand sie gelangweilt und innerlich leer mit dem Baby auf dem Arm am Fenster, mit Blick in ein Dasein, dem sie sich nicht zugehörig fühlte, und in der innigen Hoffnung, es möge endlich etwas geschehen?
Mit dem Einverständnis meines Vaters und im Willen, eine Abwechslung vom Alltag herbeizuführen, arbeitete Mutter bald zweimal pro Woche in einer Bar. Sie habe wiederholt von rassistischen Übergriffen berichtet und sei bei ihrer Rückkehr öfters alkoholisiert gewesen, wollte aber unter keinen Umständen auf diese Tätigkeit verzichten, berichtete mir Papa später. In einer dieser Nächte ereignete sich ein dramatischer Zwischenfall: Nach wiederholten sexuellen Belästigungen durch einen Stammgast zerschlug Mutter im Bruchteil einer Sekunde ein Bierglas an der Tischkante und attackierte ihren Widersacher heftig mit dieser tödlichen Waffe. Der Schwerverletzte musste sich einer fünfstündigen Operation unterziehen und ging später rechtlich gegen Mutter vor, die allerdings in allen Instanzen freigesprochen wurde, da sie in Notwehr gehandelt hatte, wie das Gericht befand. Ob Mutters Rage durch diesen Vorfall entfacht wurde, weiß ich nicht genau, aber das gewalttätige Ereignis steht in meiner Erinnerung in Zusammenhang mit einer Zäsur im Leben meiner noch jungen Eltern, und es ist anzunehmen, dass Mutter spätestens ab diesem Zeitpunkt erneut in Kontakt mit harten Drogen geriet: Nach einer ärztlichen Untersuchung hatte man ihr eröffnet, sie sei HIV-positiv. In den späten Achtzigerjahren handelte es sich bei dieser Diagnose um ein Todesurteil, das innerhalb weniger Jahre vollstreckt werden würde.
In meiner Wahrnehmung war Mutter in dieser Zeit schwanger. Die Ärzte beschieden den Eltern, das Baby würde die Geburt nicht überleben oder hätte aufgrund der großen Ansteckungsgefahr ein kurzes sowie leidvolles Leben vor sich. Da befürchtet wurde, dass die Anstrengungen von Schwangerschaft und Geburt die Aidserkrankung auslösen könnten, die Kinder bald als Halbwaisen und der Mann als Witwer weiterleben müssten, entschieden sich die Eltern – so wurde mir später erzählt – schweren Herzens für einen Abbruch: Am Geburtstag von Papa, den er seither nie mehr feierte, opferte man das Ungeborene zugunsten der Mutter und Ehefrau. Die dramatischen Details und Konsequenzen dieser Entscheidung sind mir nicht im Detail bekannt. Ich erinnere mich, dass mich Mutter nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus mit Geschenken überhäufte, eine Geste, die ich als Kleinkind nicht zu deuten wusste, aber in den folgenden Monaten bemerkte ich, wie die Eltern viel weinten und sich zunehmend in heftige Streitigkeiten verwickelten.
Mutters Temperament, das nun auch in nüchternem Zustand explosive Züge aufwies, trat im Umgang mit mir öfters zutage. Ihr Zorn konnte durch einen zufällig fliegenden Funken entzündet werden, und eine einfache Verärgerung artete leicht in große Aggressivität aus. Sie schien in solchen Situationen wie von Sinnen, und es ließ sich erahnen, welch gewaltige Kräfte diese Frau entwickeln konnte, würde sie jemandem tatsächlich Schaden zufügen wollen.
Das Dasein verlief in den ersten vier Lebensjahren scheinbar geordnet: Die Fotografien meiner frühen Kindheit zeigen ein Mädchen in einem bestickten Trachtenkleidchen. Ich sitze breitbeinig und sicher auf einem Dreirad. Oder ich bin artig frisiert ins Bild gerückt, halte eine Eiswaffel oder meinen Plüschbären in die Luft. Heute weiß ich, dass die Idylle bereits unsichtbare Risse aufwies, und bald produzierte Mutter mit der Kamera surreale Momentaufnahmen, die auf eine andere Wahrnehmung der Welt hindeuteten: zerfließende Zimmerpflanzen, eine überbelichtete Fratze und ein Gesicht als bunte Pfütze – ein Bild, das ich keinem Menschen zuordnen kann, den ich kenne. Und anderes hielt sie fest: Wie ich,