Signaturen der Erinnerung. Thomas Ballhausen

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Signaturen der Erinnerung - Thomas Ballhausen

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ebenso verlangt wie nach einer Hingabe der Verantwortlichen als Beispiel des Eingeforderten (Kafka, 2012, 139–142). Auch an diesem Punkt muss in letzter Konsequenz die idealgeprägte Richtungsvorgabe vor der völligen Einlösbarkeit stehen. Eine permanent inventarisierte Haltung aus Neugier und Demut, die das beschriebene Gleichgewicht arbeitspraktischer Balance in choreografischer Manier immer wieder neu hält (und auch: zu halten lernt), erweist sich dabei jedoch keineswegs als Unmöglichkeit. Der Umgang mit den Quellen braucht den Erhalt einer kontextbewussten Dialogfähigkeit, die sich der Kunst des Denkens und der Arbeit an der Erkenntnis bewusst ist. Die Notwendigkeit, zu wissen, wie sie etwa Martha Nussbaum in positivem Bezug zu John Rawls darstellt, muss einhergehen mit „an important distinction to be drawn between having views about an institution or profession and leading the way of life characteristic of that institution“ (Nussbaum, 1985, 136). In der erwähnten dualen Verantwortung gegenüber einer sich wandelnden, fordernden artikulierenden Öffentlichkeit und heterogenen Sammlungen liegt die Option, einem vernutzenden Denken zu begegnen, das entweder die Archive (und den daran gekoppelten Diskurs) auf die Rolle des Zulieferers limitiert oder gar die Sammlungen nur unter dem Aspekt zu realisierender Öffentlichkeit sieht. Es bedarf keines Hangs zu Materialfetischismus oder Animismus, um die Gefahren solcher Limitation zu erkennen.

      Das Archiv als Untersuchungsgegenstand reflektiert auf den Umstand einer sich schon länger abzeichnenden Entwicklung, die die Archive aus ihrer bürokratisch-verwalterischen Zuspitzung herauslösen. Die in einen erweiterten Archivbegriff eingeschriebene (potentielle) semantische Leistung darf, bei aller Wertschätzung des Archvis als Raum bzw. Ort der Begegnung und Erkenntnis, nicht die Option ausblenden, das Archiv als Möglichkeit und Gesetz der laufenden Diskurse zu begreifen. Diese Stiftungsmacht verjüngt sich in der Auseinandersetzung mit dem Medium Film beispielsweise zur Frage nach der Erinnerung. Für die folgenden Analysen soll dabei aber darauf hingewiesen werden, dass sich hier Film nicht nur als Speichermedium des Kollektiven begreifen lässt, sondern vor allem als Medium, anhand dessen Erinnerung exemplifiziert werden kann. Archive als historiografische Registratur der Geschichte erlauben auf diesem Wege ein Einrechnen von Heimsuchungen, vom Unerwünschten, vom Symbolischen und nicht zuletzt vom Gespenstischen. Das Denken über das Archiv wird hier, im Sinne einer Philosophie als Möglichkeit der Begriffsfindung und semantischen Metamorphose, zum Denken mit dem Archiv.

      In den vorliegenden Ausführungen ist es mir daher ein Anliegen, einen erweiterten Archivbegriff denkbar und operationalisierbar zu machen. Zu diesem Zweck wird beim Partikularen, mitunter auch beim sogenannten Lokalen angesetzt. In der konkreten Auseinandersetzung mit einer Vielzahl kaum bis gar nicht verhandelter Beispiele soll das Archiv in seiner praktischen Anwendung und Anwendbarkeit vorgestellt werden. Die analytischen Einzelstudien werden zeigen, wie die oben angedeuteten Verpflichtungen und Potentiale ausgespielt werden können, ohne einem bedenklichen hegemonialen Diskurs, z. B. in Bezug auf das Filmische, aufzusitzen. Vielmehr soll hier das Spannungsverhältnis aus Erinnerung, Schichtung und Materialität in den Vordergrund rücken. In der vertikalen wie horizontalen Strukturierung der gesamten Arbeit ist das Moment der Relation dominant: So stehen die Einzeluntersuchungen in einer aufbauenden, sich entfaltenden Verhältnismäßigkeit zueinander, ohne ihre Funktion als herauslösbare Glieder zu beeinträchtigen. Die Gewichtung des Verhandelten ist einerseits der sich ständig weiterschiebenden Front der Forschung und der von ihr gezeitigten Literatur geschuldet, andererseits der Notwendigkeit, ausgewählte Fragen in geeigneteren Kontexten zu adressieren. So ist der erschöpfend beforschte Bereich der Digitalisierung zwar berücksichtigt, doch aufgrund vorliegender Publikationen nicht neu begründet (vgl. dazu z. B. Witten, Bainbridge & Nichols, 2010; transfermedia, 2011; Ballhausen & Stöger, 2013). Die erwähnten spezielleren Fragestellungen, die den Fokus der vorliegenden Arbeit gesprengt hätten, habe ich an anderer Stelle untersucht: Thematisch fallen hierin beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Archiv und Autonomie (Ballhausen, 2012a), die Ausarbeitung von Strategien zur Veränderung des Archivs zum erweiterten Lernraum (Ballhausen, 2012b) oder die Beschreibung des Archivs als dynamisches System und Institutionsform mit gesamtgesellschaftlichen Verantwortungen (Ballhausen, 2014). Ergänzt wird die vorliegende Arbeit um eine bewusst umfassend gehaltene Bibliografie, die sowohl die verwendete Literatur nachweist als auch, im Sinne eines deutlich werdenden Mehrwerts, weiterführende Titel listet. Neben der wissenschaftlich korrekten Nachweisbarkeit des Herangezogenen soll hier eine Einladung zum Weiterlesen und Weiterdenken ausgesprochen sein. Für die eigene Arbeit am Archiv, die einem sensiblen, doch hoffentlich nicht idiosynkratischen Vorsatz gehorcht, steht ein Hinarbeiten auf eine Kritik des Archivs – in all ihren Mehrfachbedeutungen – an. Nachdem das geforderte unbedingte Archiv niemals das bedingungslose sein kann, kann ich, so hoffe und vermute ich, dahingehend gar nicht zu viel wollen. Die gute Wissenschaft ist immer (auch) lustvoll.

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      Foto: © Josef Navratil

       1.3 Theorie, Geschichte und Funktion der (Film-)Archive

      Fangen wir nicht mit dem Anfang an, beginnen wir doch stattdessen mit der Wiederholung des Anfangs im Rahmen eines bemerkenswerten Beispiels, Peter Tscherkasskys L’Arrivée (1998). Dieser

      „[…] besteht aus einzeln kontakt-kopierten und im Kopiervorgang bearbeiteten 35mm-Filmstücken. Aber bevor noch ein richtiges Abbild zu sehen ist, sehen wir das Abbild von Blankfilm: nichts – bzw. nur das, was idealer Blankfilm gewiss nicht aufweisen soll: Schmutz, Fehler, Schrammen, vorbeihuschende Schriftzeichen des Unvollkommenen. Speziell im Ton vermittelt sich diese Wahrnehmung: Wir hören eine composition automatique, die aufregende ‚Musik‘, die aus der Unreinheit jedes mechanischen Vorganges entsteht, lange bevor eine bewusste Note, eine bewusste Abbildung gesetzt wird. Dieses ‚Grammophon‘ spielt eine Platte, auf der sich das Eigengeräusch der Maschine zeitgleich aufzeichnet und als kunstfähiges Ereignis darbietet. In weiterer Folge verwendet L’Arrivée Material aus einem in Wien gedrehten Spielfilm namens Mayerling, mit Catherine Deneuve als Mary Vetsera. Man sieht – flüchtig und in Schwarz-weiß – die Ankunft eines Zuges in der Station. Man sieht also, zum zweiten Mal bei Tscherkassky, einen gefälschten Lumière-Film (L’Arrivée d’un train à La Ciotat). Man sieht den ‚Zug‘ der Perforationslöcher, der aus den Schienen springt und gegen andere Züge gejagt wird. Und man sieht den unglaublich, lichterloh psycho-physischen ZUG, den das Kino von seinem ersten Moment an gehabt haben muss […]“ (Horwath, 2005a, 41).

      Zwei Hauptthemen des Kinos werden in Tscherkasskys Kurzfilm zusammengeführt: einerseits die Zugreise und die damit verbundene Dynamik der Bewegung, dieser dampfend-erschreckende Ausgangspunkt der Kinematografie, und, andererseits, das nicht weniger erschreckende Phantastische, das sich in den Dreißiger- und Vierzigerjahren zu den unterschiedlichsten Genres des Phantastischen Films ausdifferenzierte. Beide Aspekte verbinden sich darüber hinaus mit dem Archiv, dem Bewahrten. Die Avantgarde – hier mit diesem Beispiel als Beleg – entdeckt die Filmgeschichte auf dem Weg des Archivierten für sich; sie kehrt zu den Ursprüngen des Films zurück, um sich mit den Anfängen der Filmgeschichte und den Traditionen des Mediums zu konfrontieren. Peter Tscherkasskys Arbeit bringt das Publikum dabei an den Geburtsort des Films zurück – einen Bahnhof. Diese Schnittstelle – mal Ankunftsort, mal Startpunkt – ermöglicht es ihm mittels zufällig gefundenen Materials, das subversive Potential und die Qualität des frühen Films in Erinnerung zu rufen. In seiner Re-Memoria mengen sich das Material und auch die Materialität des Films – auf die später noch eingegangen werden wird – in das Dargestellte, beanspruchen einen Platz abseits des dafür vorgesehenen Raums. Im Sinne des Films, des Bahnhofs und des Archivs lässt sich somit sagen: Hier endet es, hier beginnt es – erneut.

      Archiv – das ist nicht nur das zu bewahrende und zu reanimierende Material, sondern eben auch das strukturierende Ordnungsprinzip hinter den ebenfalls mit diesem Begriff bezeichneten, durchaus recht unterschiedlichen Institutionsformen. In der Folge soll deshalb nun in acht Passagen ein philosophischer Spaziergang durch die traditionellen und aktuellen

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