Signaturen der Erinnerung. Thomas Ballhausen
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Diese intellektuell-logistische Leistung schließt auch Bedeutungsverschiebungen und (Neu-)Bewertungen mit ein: „Charakteristisch für diese Archivästhetik ist die Semantisierung einer institutionellen Organisation durch die Hermeneutik des Organismus, mithin also die Anthropomorphisierung eines Apparates durch Lebensphilosophie […]“ (Ernst, 2002, 88). Auch hinsichtlich der (metaphorischen) blinden Flecken, die sich durch die Eingebundenheit in ein System ergeben – also im weitesten Sinne eine quantenmechanische Bezüglichkeit im Sinne von Position, Beobachtung und zu verrichtender Arbeit –, kann das Erkennen dieser Position, ganz im Sinne einer weiterführenden Verbindung von Rationalität und Sammlung, zu einer Erkenntnis der Teilhabe an historischen bzw. historisierenden Prozessen führen. Dabei ist es ja durchaus erstrebenswert, die Gegenwärtigkeit dieser mnemotechnischen Archivarbeit dabei nicht aus den Augen zu verlieren, also an aktuellen Diskursen zu partizipieren und dem dringlichsten Wunsch der Archive nachzukommen: einem delirierenden Zustand zu entkommen und auf eine Ordnung zuzusteuern, die in der Lage ist, sich selbst kritisch zu befragen und der eigenen Disziplin sinnvolle Möglichkeiten der Unterstützung und der (Selbst-)Reflexion im Sinne einer metaphorischen Registratur bieten zu können. Dies gilt auch in einem umfassenden Sinne für die in den Institutionen tätigen Personen, die durch ihre Tätigkeit immer auch im Archivdiskurs mitgemeint und miteingeschrieben sind. Sie sind somit die Verantwortlichen, die mit ihrer Leistung dazu beitragen müssen, dass – ganz im Sinne des zitierten Calassos – Kultur und Blätterrauschen unterscheidbar bleibt:
„Archive stellen einen wichtigen Teil des kollektiven Gedächtnisses dar oder vielmehr, sie enthalten die Bausteine, aus denen dieses Gedächtnis immer wieder neu zusammengesetzt und zum Leben erweckt werden kann. […] Daß Archive nur einen wenn auch wichtigen Teil des kollektiven Gedächtnisses darstellen, gilt in mehrfacher Hinsicht. Sie teilen sich diese Funktion mit anderen Institutionen, mit Bibliotheken, Museen, der lebendigen Tradition, kurz mit allem, was Erinnerung stiften und bewahren kann. Teil sind sie aber auch in einem anderen Sinne. Archive bewahren den schriftlichen Niederschlag von Geschehenem, der, wie es in einer gängigen Definition heißt, bei Personen oder Institutionen in Ausübung ihrer Funktionen erwächst“ (Auer, 2000, 57).
1.3.3 Zum Beispiel der Filmarchive
Filmarchive waren in ihrer Urform, also während der frühen Jahre der Kinematografie, zumeist von Einzelpersonen getragen worden. Doch schon in der Prä-Kino-Zeit gibt es den Wunsch nach der dauerhaften Aufbewahrung: So fordert W. K. L. Dickinson, der Miterfinder des Kinetoskops, bereits 1894 eine Möglichkeit zur Erhaltung der von ihm projizierten vitalized pictures (Bottomore, 2002, 86). In Europa wurde ab Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt auch auf den Wert der Bewegtbilder aufmerksam gemacht. So brachte die Fachzeitschrift Kinematographische Rundschau bereits im Mai 1907 den Wiederabdruck eines Artikels des Berliner Tagblatts, in dem erstmals recht ausführlich die Vorteile sogenannter „Kinematographischer Archive“ vorgestellt wurden:
„Ernst v. Bergmanns Stimme ist der Nachwelt erhalten geblieben. Wenige Wochen vor seinem Tode hat der grosse Gelehrte ein Stück aus seiner Familienchronik in ein Grammophon hineingesprochen, und man ist nun imstande, immer wieder Ernst v. Bergmanns Stimme zu hören, der der akzentuierte baltische Dialekt eine so eigenartige Färbung gab. Um wieviel interessanter und vor allem für die Wissenschaft bedeutungsvoller wäre es, wenn man eine Operation Bergmanns kinematographisch festgehalten hätte, wenn in späteren Zeiten die Studenten der Medizin noch sehen könnten, wie der Meister der Chirurgie seinen Eingriff in den kranken Körper vollzog. Es gibt bereits in mehreren Staaten phonographische Archive, in denen die Stimmen vieler Grosser für die Nachwelt aufbewahrt werden. Es soll nun hier die Anregung gegeben werden, in entsprechender Weise auch kinematographische Archive einzurichten, in denen, wie dort die Grammophonplatten, Films, auf denen wichtige und interessante Ereignisse in lebendiger Beweglichkeit festgehalten sind, aufbewahrt werden. Der Phonograph ist über das Spielzeug bereits hinausgewachsen, und auch der Kinematograph hört jetzt auf, nur ein kurioser Apparat zu sein, dessen Wirksamkeit man im Variété oder in einem eigens zu diesem Zweck eingerichteten Theater bestaunt oder belacht. Das bewegliche Lichtbild ist vielmehr bei richtiger Auswahl der Objekte imstande, viel Aufklärung in der Gegenwart zu verbreiten und ausserordentliche Belehrung in die Zukunft zu tragen. Für die Kulturgeschichte würde mit dem kinematographischen Archiv eine neue Ära anbrechen. Wie blass sind die schönsten Beschreibungen vergangener Zustände gegenüber ihrer Aufbewahrung im lebendigen Bild. Wie heute auf einer grossen Station ein Zug abgefertigt, wie die Feuerwehr arbeitet, wie die Leipzigerstrasse an einem Geschäftsnachmittag aussieht – alle diese und ähnliche Momente aus der Entwicklungsgeschichte kann man den kommenden Geschlechtern durch den Kinematographen lebendig erhalten. Solche Aufnahmen zum Beispiel in Berlin systematisch durchgeführt, könnten noch nach Jahrhunderten ein völlig klares Bild von dem gegenwärtigen Zustand der Reichshauptstadt geben und damit den Forschern unendlich wertvolles Material in die Hände liefern. Für die Wirksamkeit des kinematographischen Archivs gibt es, wenn es ernsthaft angegriffen wird, gar keine Grenzen. Und sein Nutzen liegt so klar zutage, dass die Anregung wohl nur gegeben zu werden braucht, um geeignete Kreise dafür zu interessieren“ (o.A., 1907, 3).
Weiterführende Ansätze und Ideen zur möglichen Archivierung von Filmen formulierten der in Paris beheimatete Pole Bolesław Matuszewski und sein deutscher Kollege Hermann Häfker. Beide gelten zu Recht als Pioniere auf diesem Gebiet, die auf die gesellschaftliche Notwendigkeit der Aufbewahrung filmischer Quellen aufmerksam machen wollten. War Matuszewski, der bereits 1898 sein Buch Une nouvelle source de l’histoire – création d’un dépôt cinématographie historique vorlegte, noch mehr darauf bedacht, Film als historisch wertvolle Quelle zu etablieren, formulierte Häfker in seiner 1915 erschienenen Schrift Das Kino und die Gebildeten bereits mögliche Aufgaben und Probleme noch einzurichtender Archive und Depots. Seine klar formulierten Strategien waren vor allem Konzepte der Bewahrung, die, gemessen am technischen Stand seiner Zeit, als durchaus fortschrittlich gelten können. Während des Ersten Weltkrieges stand aus naheliegenden Gründen vor allem der physische Schutz des Materials im Vordergrund und weniger ein Ausbau der bestehenden Sammlungen. Die Überlieferungssituation dieser historischen Phase, mit der die Filmarchive konfrontiert sind, ist eine äußerst schwierige, wurden doch kurz nach dem Ende des Krieges in den besiegten Ländern umfangreiche Film- und Dokumentenbestände – vor allem aus den Bereichen der kriegsspezifischen (Film-)Berichterstattung – vernichtet.
Bis