Reibungsverluste. Mascha Dabić

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Reibungsverluste - Mascha Dabić

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Euro drauf, aber an den meisten Tagen schaute sie verlegen weg und erwiderte das Kopfnicken nicht.

      Nora strampelte los, nickte der alten Frau kurz zu, bog um die Ecke und reihte sich in den Verkehr ein.

      Schon wieder rot. Sie würde wertvolle Minuten verlieren, und wenn sie Pech hatte, würde überhaupt eine rote Welle auf sie zurollen, und dann würde sie schon wieder zu spät zur Arbeit kommen. Nora spürte, wie der Ärger über sich selbst, über ihre pathologische Unfähigkeit, das Haus rechtzeitig zu verlassen, in ihr aufstieg und ihr Schweißperlen auf die Stirn trieb. Sie nahm einen weiteren, aggressiven Zug von ihrer Zigarette. Wie konnte es sein, dass andere Menschen morgens mühelos ihr warmes Bett verließen, ihre Morgentoilette erledigten, möglicherweise sogar ein Frühstück zu sich nahmen und sich obendrein noch schminkten oder rasierten? Dort drüben, diese junge Frau mit den Stöckelschuhen: perfekt frisiert, dezent geschminkt, adrett angezogen. Oder dieser Mann da, mit den zwei Kindern: Wie hatte er es bloß geschafft, früh genug aufzustehen, um diese beiden kleinen Menschen anzuziehen, zu füttern und aus dem Haus zu bugsieren?

      Vladimir war auch einer von diesen Morgenmenschen gewesen. »Du Morgenstreber«, hatte sie ihm manchmal schnurrend aus dem Bett nachgerufen, während er sich mit äußerster Präzision und Hingabe seine Krawatte band, sich seine Omega-Uhr umschnallte und alle anderen Attribute des erfolgreichen Lebens anlegte, wie ein Ritter, der sich in die Rüstung wirft, um loszuziehen und sich im rauen Kampf zu behaupten. Da fehlte nur noch die hübsche, frisch angetraute Gattin, die mit einem strahlenden Zahnpastalächeln die Milch in die Cornflakesschüssel goss und mit einer schwungvollen Bewegung den frischgepressten Orangensaft auf den Tisch stellte. Dafür taugte Langschläferin Nora allerdings nicht.

      Vladimir gehörte zu der globalen Heerschar von Männern, die verlässlich und pünktlich im Büro erschienen, frisch rasiert, gut gelaunt, mit korrekt gebundener Krawatte und glänzenden Schuhen. Einer von den unzähligen strammen Soldaten der Wirtschaft, die, sobald sie aus dem Bett steigen, zielstrebig dem ersten Höhepunkt ihrer Leistungskurve entgegeneilen. Nora dagegen hatte ihren Schlafrhythmus schon als Schülerin nachhaltig beschädigt, als sie damit begonnen hatte, bis spät in die Nacht mit der Taschenlampe Abenteuerromane und Detektivbücher unter der Decke zu lesen, um ihren Bruder Max nicht zu stören, was dazu führte, dass sie in der Schulbank gegen den Schlaf ankämpfte und dann, sobald sie aus der Schule kam, kraftlos ins Bett fiel und in einen tiefen Nachmittagsschlaf glitt. Diese Angewohnheit behielt sie im Studium und danach bei. »Du bist eben eine Eule«, hatte Vladimir gesagt, wenn sie selbst über ihre morgendliche Schussligkeit geklagt hatte.

      Die Ampel schaltete auf Grün. Nora strampelte los.

       - ankommen -

      Als sie ihr Ziel erreichte, war es zehn nach neun. Sie war verschwitzt, außer Atem und hätte sich am liebsten selbst dafür geohrfeigt, dass sie schon wieder zu spät kam, obwohl sie sich am Vorabend fest vorgenommen hatte, diese Woche gut und richtig anzufangen. Sie sperrte ihr Fahrrad hastig ab, stürmte in das Gebäude und rannte die drei Stockwerke hinauf. Vor der Tür blieb sie einen Augenblick lang stehen, um der Versuchung zu widerstehen, die Tür aufzureißen. Sie atmete einmal durch und trat ein.

      Erika saß wie immer an ihrem Schreibtisch und begrüßte sie mit einem breiten Lächeln.

      »Guten Morgen, Norotschka!«

      »Hallo, Erika, bitte entschuldige die Verspätung, ich …«

      Erika unterbrach sie:

      »Kein Problem. Du hast sowieso eine Stehstunde. Herr Achmadow hat gerade telefonisch abgesagt. Er ist krank. Roswitha ist schon im Therapiezimmer.«

      Nora holte reflexartig ihr Handy heraus.

      »Ja, ich habe dich gleich angerufen und dir auf die Box gesprochen.«

      »Ich hab’s nicht gehört, bin heute mit dem Rad da.«

      »Bringst du uns einen Kaffee?«

      Nora nickte und rang sich ein gequältes Lächeln ab. Der Stress war umsonst gewesen. Sie hätte eine Stunde länger schlafen können. Oder in aller Ruhe bei der Aida einen Kaffee geschlürft und dazu eine Nussschnecke vertilgt.

      Egal, so hatte sie eben ihre sogenannte Stehstunde, eine erzwungene Wartezeit, die man ja keineswegs im Stehen verbringen musste und die immerhin elf Euro einbrachte. Besser als nichts. Außerdem war ein Kaffeeplausch mit Erika insbesondere an einem Montagmorgen nicht zu verachten. Am Wochenende erlebte Erika meistens verrückte Sachen, was montags für Unterhaltung sorgte. Nora hatte das Gefühl, dass Erika die Wochenenden dringend brauchte, um ihre Batterien aufzuladen. Kein Wunder, musste sie doch den ganzen Tag freundlich und geduldig bleiben, jedem noch so schwierigen Klienten eine verständliche Auskunft geben und die Launen sämtlicher Psychotherapeuten und Dolmetscher über sich ergehen lassen. Nora fragte sich, wie Erika das aushielt. Sie selbst arbeitete maximal drei Tage pro Woche hier, manchmal auch nur einen Tag. Alle Psychotherapeuten und Dolmetscher arbeiteten so, stundenweise oder tageweise. Nur Erika war von Montag bis Freitag im Haus. Sie bildete das soziale Kernstück des Zentrums, an ihrem Tisch liefen alle Fäden zusammen, bei ihr wurde getratscht, gelästert und gejammert, Honorarnoten wurden ausgefüllt, in dringenden Fällen Tampons, Nagellackentferner und Handcreme geschnorrt, und der Kaffee, ja, ohne Kaffee ging gar nichts.

      Nora war schon fast wieder bei der Treppe, als ihr einfiel, dass sie vergessen hatte nachzufragen, welchen Kaffee Erika heute wollte. Sie kehrte um und steckte ihren Kopf durch die Tür:

      »Automat, Filter oder Kanne?«

      »Automat. So, wie er rauskommt«, antwortete Erika.

      Nora grinste verschwörerisch und machte auf dem Absatz kehrt. Erika und Nora hielten große Stücke auf den neuen Kaffeeautomaten, was von allen anderen Kollegen im Büro mit Kopfschütteln bedacht wurde. Sie griffen nur im Notfall darauf zurück, wenn die Milch im Kühlschrank der Gemeinschaftsküche abgelaufen oder das Kaffeepulver aufgebraucht war. Erika und Nora dagegen machten sich einen Spaß draus, jedes Mal eine andere Sorte im Angebot auszuprobieren und für die jeweilige Geschmacksrichtung Punkte zu vergeben.

      Auf dem Weg zum Automaten im ersten Stock sinnierte Nora darüber, ob es möglich wäre, eine Statistik über Vornamen von Sekretärinnen aufzutreiben. Bestimmt war es nur selektive Wahrnehmung, aber sie hatte den Eindruck, dass der Name Erika überproportional vertreten war. In der Caritas-Stelle im vierten Bezirk, wo sie mittwochs arbeitete, hieß die Sekretärin auch Erika, ebenso die Sekretärin in der Volkshochschule, wo Nora Russisch für Anfänger unterrichtete, und wenn ihr Gedächtnis sie nicht täuschte, hatte in ihrem ersten Studienabschnitt einer von den vier Sekretariatsdrachen am Institut für Politikwissenschaft ebenfalls Erika geheißen. Konnte das ein Zufall sein? Oder war es so, dass Namen bestimmte Eigenschaften und Charakterzüge verstärkten und sich deshalb überdurchschnittlich viele Gleichnamige in einem Berufsfeld tummelten? Erika klang nach Ordnung, Zuverlässigkeit und einer gewissen Strenge, wenn es drauf ankam. Eine Erika passte hervorragend in jedes Büro, der Name bürgte für Sicherheit. Nach Noras Beobachtung lautete das russische Pendant dazu Svetlana.

      Roswitha dagegen war ein typischer Name für eine Psychotherapeutin, und zwar für eine von denen, die zu ihrem mütterlich-verständnisvollen Lächeln und ausladenden Kurven gerne große bunte Schals und auffällige Broschen trugen. Roswitha oder Lydia, diese Namen suggerierten Vertrauen und Geborgenheit. Die eher hölzern-abstinent wirkenden Psychoanalytikerinnen hörten wiederum gerne auf solche Namen wie Gertrud oder Hedwig.

      Was ihren eigenen Namen betraf, so hatte Nora seit ihren Teenagertagen darauf gesetzt, dass ihr kurzer, prägnanter und im Übrigen weltberühmter

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