Reibungsverluste. Mascha Dabić

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Reibungsverluste - Mascha Dabić

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wurde im Formular ein »Opfer« oder ein »Überlebender«, alles kompakt auf maximal drei formatierte A4-Seiten zusammengefasst. Das Formular wurde dann in englischer Übersetzung nach Genf in ein UNO-Gebäude geschickt, wo es wohl in einem Büro auf einem Tisch landete, anschließend mit den anderen Formularen in eine Mappe geheftet wurde, um beim nächsten board meeting von einer wohlgesonnenen UNO-Mitarbeiterin als Beleg dafür verwendet zu werden, warum ausgerechnet dieser Verein weitere Subventionen erhalten sollte.

      Nora bereitete es Unbehagen, wenn sie diese Berichte übersetzen sollte, weil es ihr paradoxerweise viel schwerer fiel, die kompakte, schwarz auf weiß abgefasste Foltergeschichte zu ertragen als die gestammelte, hervorgepresste oder unter Tränen in einem Wortschwall nach außen drängende Erzählung in der Therapiestunde. Wenn Folter oder Vergewaltigung zum Thema in der Therapie wurden, und früher oder später war das bei jedem Klienten der Fall, dann hielt sich Nora krampfhaft an ihrer Wahrnehmung fest, studierte aufmerksam den Gesichtsausdruck des Klienten, starrte auf die in sich zusammengesackte Topfpflanze am Fenster, trank einen Schluck Wasser, betrachtete die Hände des Klienten oder fummelte selbst an einem Taschentuch herum, konzentrierte sich auf das Dolmetschen, auf diesen alchemischen Prozess, im Zuge dessen das Gesagte in einer bestimmten Wortkombination durch den Gehörgang in ihren Kopf eindrang und in einer anderen Form, möglichst unbeschadet und so wenig wie möglich durch Reibungsverluste in Mitleidenschaft gezogen, durch den Mund wieder verließ. Der etwaige Schaden, den der Kanal, also Noras Kopf, durch diese Transaktion möglicherweise nahm, interessierte nicht. Reibungslos sollte die Kommunikation ablaufen, das war das Ideal, keine Reibung, keine Verluste. Dabei waren Reibungsverluste nichts anderes als Wärme, genau genommen die Umwandlung von Bewegungsenergie in Wärmeenergie, das wusste Nora noch aus dem Physikunterricht, aber die Sprache entzog sich wohl diesen Gesetzmäßigkeiten, und Wärme entstand manchmal erst dort, wo Sprache aufhörte.

      Wenn die kritischen Augenblicke vorüber waren, spürte Nora gemeinsam mit dem Klienten die Erleichterung darüber, dass das Unsagbare schließlich doch noch ausgesprochen worden war und sogar den Weg in eine andere Sprache gefunden hatte, sie war froh, daran mitgewirkt zu haben, dass diese Worte nach außen drängen konnten, wo sie gut aufgehoben waren, wo sie nicht, wie sie es etwa bei der Polizei oder bei Gericht erlebt hatte, jederzeit gegen den erschöpften Sprecher verwendet werden konnten und auf etwaige Widersprüche abgeklopft wurden.

      Nach solchen Therapiestunden fühlte sich Nora angesteckt und beschmutzt von einem Grauen, von dem sie nichts wissen wollte, durchdrungen vom sicheren Wissen darum, dass Menschen einander entsetzliche Dinge antaten, und zwar nicht irgendwelche Menschen irgendwo irgendwann, sondern da, hier, saß ein solcher Mensch, dem so etwas angetan worden war, ein Mensch, der nicht nur Opfer, sondern auch Zeuge der Grausamkeiten war, die ein Krieg produzierte oder aber, da war sich Nora nicht ganz sicher, bloß zum Vorschein brachte.

      Und nicht immer waren es Opfer. Manchmal hatte es Nora auch mit Tätern zu tun gehabt, das waren Soldaten oder Freiheitskämpfer, Bojewiki, bullige Männer mit militärischem Aussehen, die gemordet und gefoltert hatten und deren Erzählungen über den Krieg sich in vagen Andeutungen erschöpften. Solchen Tätermännern Kopf und Stimme zur Verfügung zu stellen, kostete Nora nicht wenig Überwindung, aber manchmal ertappte sie sich auch bei dem Gedanken, dass einige dieser Täter selbst Opfer des Krieges waren und dass sie unter normalen Umständen Sportlehrer, Handwerker oder Installateure geworden wären und ihre Muskelkraft für friedliche Zwecke eingesetzt hätten. Da sie aber nun einmal in einer Zeit lebten, in der ein Gewehrschuss den nächsten nach sich gezogen hatte, waren aus diesen Männern im Handumdrehen Bewaffnete geworden, und die Ereignisse hatten unaufhaltsam ihren Lauf genommen.

      Trotz aufrichtigen Bemühens, sich auch in die Lage von Soldaten und Kämpfern hineinzuversetzen, arbeitete Nora nur ungern mit solchen Männern zusammen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, bei solchen Männern »ich« sagen zu müssen, »ich habe für die Unabhängigkeit gekämpft«, »ich habe gegen die russischen Soldaten gekämpft«, »ich habe mich in Wäldern versteckt«, »ich habe Essen und Medikamente für die Truppe besorgt«, aber sie tat es, sie überwand sich, sie sagte »ich«, wenn der Mann über sich selbst sprach. Meinte der Mann aber sie, Nora, die Perewodtschiza, formten ihre Lippen reflexartig das Wort »die Dolmetscherin« oder »unsere Dolmetscherin«, und ihre Stimme hörte sich fremd an.

      Selbst wenn ein solcher Mann geknickt oder schluchzend vor ihr saß und keine Spur von Brutalität ausstrahlte, musste Nora an rohe, männliche Gewalt denken, an dieses unbegreifliche Phänomen, das von Menschen ausgeübt wurde und dem zugleich genau diese Menschen und auch andere, unbeteiligte, zum Opfer fielen und das immer und immer wieder nach einem ähnlichen Muster ablief, zu allen Zeiten, an allen Orten. Sollte die pure Grausamkeit tatsächlich in allen Menschen schlummern? War es nur dem Zufall geschuldet, ob einer zum Täter oder zum Opfer oder zu beidem wurde? War das sogenannte Böse nur eine Frage der Konstellation und der Dynamik? Hatten Männer in Kriegszeiten wirklich nur die Wahl, Helden oder Verräter, Freiheitskämpfer oder Terroristen zu werden, gab es da so wenig dazwischen? Wenn einer einfach feig war, musste das dann bedeuten, dass er Verrat beging? Verrat an wem oder an was? Beim Dolmetschen schwirrten solche Gedanken immer in einem Teil von Noras Kopf umher, weil alle Geschichten, mit denen sie als Dolmetscherin zu tun hatte, so unverwechselbar und einzigartig sie auch waren, zugleich Teil eines größeren, unerbittlichen Zusammenhangs waren, aus dem es kein Entrinnen gab, für niemanden. Eine unbarmherzige Kraft war über alle diese Menschen hinweggefegt und hatte sie niedergetrampelt, und zugleich waren manche Männer, mit denen Nora arbeitete, auch Teil dieser gewaltigen Kraft gewesen, wenn auch nur als Zahnrädchen innerhalb einer größeren Kriegsmaschinerie.

      Allerorts produzierte der Krieg Ruinen und Scherbenhaufen. Das betraf die sichtbare städtische Architektur genauso wie die filigrane Struktur der Seele. Die Therapie, schlussfolgerte Nora, war so etwas wie der Wiederaufbau, ein Marshall-Plan zur Konsolidierung der verwüsteten inneren Landschaften. In den Therapiegesprächen ging es darum, die von der Wucht des Traumas in alle Richtungen geschleuderten Teilstücke aufzusammeln und sie behutsam wieder zusammenzusetzen. Nora hatte nicht den Eindruck, dass die Bruchstellen jemals ganz zusammenwachsen würden. Sie stellte sich die Psyche der Klienten wie zusammengeklebte Tongefäße vor, aber immerhin Tongefäße und hoffentlich keine Scherbenhaufen mehr. Dass diese Menschen überhaupt da waren und für ihre Erlebnisse Worte finden konnten, das allein war ein Triumph des Lebenswillens über die todbringende Zerstörung, und auch wenn sich Nora in manchen Therapiesitzungen am liebsten Augen und Ohren zugehalten hätte, schöpfte sie dennoch Kraft aus der lebendigen Anwesenheit der Klienten, aus dem Bewusstsein, dass diese Menschen allen Widrigkeiten zum Trotz, against all odds, noch immer da waren, unter uns, dass der Krieg sie nicht zermalmt hatte. In der Therapie, so reimte Nora es sich in ihren eigenen Worten zusammen, sollte es darum gehen, aus Überlebenden wieder Lebende zu machen.

      Wenn Nora jedoch Fallgeschichten übersetzte, wenn sie also allein am Computer arbeitete, fiel die beruhigende Anwesenheit der anderen Menschen weg. Hatte sie einen Fallbericht zu übersetzen, war sie ganz allein mit dem Blatt Papier und mit den darauf geschriebenen Wörtern, die schwarz auf weiß die Folter und ihre zerstörerischen Langzeitfolgen beschrieben und ein für alle Mal festhielten. Verba volant, scripta manent

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