Reibungsverluste. Mascha Dabić

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Reibungsverluste - Mascha Dabić

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Kurz und prägnant, wie Dora Maar oder Anaïs Nin. Spätestens im zweiten Studienabschnitt musste sie sich jedoch eingestehen, dass in ihrem Fall die Magie des Namens versagt hatte. Seit sie als Dolmetscherin für Russisch arbeitete, wurde sie ohnehin von vielen verniedlichend Norka oder Norotschka genannt, was ihrem verschusselten Charakter viel eher gerecht wurde, wie sie sich selbst widerwillig eingestehen musste. Außerdem bedeutete Norka auf Russisch Nerz, und als Nora klar wurde, dass sie also mit einem Spitznamen herumlief, der ein Tier bezeichnete, aus dessen Fell schicke Hauben und Mäntel für neureiche Damen hergestellt wurden, wunderte es sie nicht mehr, dass sie in Russland von niemandem ernstgenommen wurde. An ganz düsteren Tagen, die sich vor dem Dreißiger gehäuft hatten, also an solchen Tagen, an denen es Selbstvorwürfe bar jeglicher Selbstironie hagelte, tauchte in ihrer Fantasie von irgendwoher die unheilvolle Überschrift »Norotschka oder ein Puppenleben« auf, mit der sie nichts anzufangen wusste und die sich nur mit einer starken Kopfschmerztablette in Kombination mit einem gut gekühlten Bier verscheuchen ließ.

      Erikas heutiger Favorit war also Cappuccino, »so wie er rauskommt«. Nora hatte Lust auf Cappuccino mit Haselnuss. Mit einem Plastikbecher in jeder Hand versuchte Nora, die schwere Glastür mit der rechten Schulter aufzustoßen und verschüttete dabei ein wenig Haselnusscappuccino über ihre Hand.

      »Scheiße!«

      »Scheiße sagt man nicht«, ließ sich eine Kinderstimme von hinten vernehmen.

      Nora drehte den Kopf. Die Stimme gehörte zu einem kleinen Jungen, etwa fünf Jahre alt, der in Socken auf dem Gang stand und Nora aus seinen großen dunkelbraunen Augen ernst anblickte. Offenbar wohnte der Kleine im Haus.

      »Entschuldigung«, sagte Nora und lächelte verlegen. Ernst dreinblickende kleine Kinder nötigten ihr Respekt ab.

      »Stimmt, so etwas sagt man nicht. Wie heißt du? Wo ist deine Mama?«

      »Und wie heißt du?«

      »Ich heiße Nora. Und du?«

      »Ich heiße Jusuf.«

      »Und wo ist deine Mama?«

      »Ich habe keine Mama. Mein Papa ist beim Arzt. Meine Schwester ist da«, sagte Jusuf und deutete mit dem Kopf zu einer halb offenen Tür, die zu einer Wohneinheit führte. Im ersten Stock gab es einige Wohnungen für Familien, im zweiten Stock waren alleinstehende Männer untergebracht, auf Russisch Odinotschki genannt, und im dritten Stock befanden sich diverse Büros, in denen Sozialarbeit, Rechtsberatung, Sprachkurse und Psychotherapie angeboten wurde. Wenn Nora im Wohnbereich ihren Automatenkaffee holte, kam sie sich wie ein Eindringling vor. Sie fühlte sich an ihre Zeiten im Internat und in diversen Studentenheimen und WGs erinnerte, wo man vom Bad bis zum eigenen Zimmer einen Korridor durchqueren musste, was kleidungstechnisch mit einem logistischen Aufwand verbunden war. Erst in Vladimirs Wohnung war es für sie nach vielen Jahren wieder möglich gewesen, den Weg vom Bad bis zum Kleiderschrank nackt oder nur in ein Handtuch gewickelt zurücklegen. Für sie war es damals der ultimative Beweis dafür, endlich angekommen zu sein, was immer das bedeutete.

      Im ersten Stock sah Nora manchmal Männer und Frauen mit nassen Haaren, in Schlafröcken oder Jogginganzügen, mit verschlossenen Gesichtern, Menschen, die so aussahen, als sei ihnen das Warten auf den Asylbescheid in jede Faser des Körpers eingeschrieben, als habe ihre gesamte Existenz den Aggregatzustand des Wartens angenommen. Auf den ersten Blick wirkten die im Haus wohnenden Kinder anders, sie konnten laut und verspielt sein, aber Nora hatte manchmal den Eindruck, dass sie das kindliche Verhalten zum Teil aus reinem Pflichtgefühl an den Tag legten, weil man es von ihnen erwartete. Schaute man den Kleinen etwas länger zu, hatte man das Gefühl, dass ihnen die Angst und die Unsicherheit der Erwachsenen keineswegs fremd waren.

      Nora schaute den kleinen Jusuf an. Mit seinen rotbesockten Füßen, von denen eine Micky Maus heruntergrinste, stand er ruhig da und schaute zurück. Nora zwang sich zu einem kinderfreundlichen Lächeln.

      »Gehst du in den Kindergarten?«

      »Ja.«

      »Dort gefällt es dir, ja?«

      »Ja.«

      »Jusuf! Juuusuuuf!!« – rief eine Stimme aus dem Zimmer. Ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit rotblonden Haaren kam heraus und sagte im raschen Tempo einige Sätze auf Tschetschenisch, die nach Schimpfen klangen. Nora hörte nur ein russisches Wort heraus, komnata für Zimmer, ansonsten blieb ihr der Wortschwall mit den vielen Kehllauten vollkommen unverständlich, aber auch so war klar, dass hier eine ältere Schwester ihren kleinen Bruder zurechtwies. Jusuf warf Nora noch einen letzten ernsten Blick zu, dann drehte er sich um, trippelte folgsam ins Zimmer und war einen Augenblick später hinter der blassgrünen Plastiktür verschwunden.

      Nora stieß noch einmal die schwere Glastür mit der Schulter auf und stieg die zwei Stockwerke hinauf, sorgfältig darauf bedacht, diesmal keinen Kaffee zu verschütten. Mit dem rechten Ellbogen drückte sie die Türklinke hinunter und stieß die Tür auf.

      »Danke, bist ein Schatz!«, sagte Erika und nahm ihren Kaffee entgegen.

      »Tschick?«, fragte Nora und deutete mit dem Kopf zur Teeküche. »Rauchst du noch? Oder schon wieder?«

      »Eigentlich schon seit fünf Tagen aufgehört, aber heute mache ich eine Ausnahme.«

      »Auf keinen Fall! Ich will dich nicht verführen!«

      »Ach was, verführ mich …«, sagte Erika schnurrend und griff nach ihrer magischen Schublade, die Nora als »Erikas Mary-Poppins-Tasche« bezeichnete, weil sie alles enthielt, was man im Büroalltag gebrauchen konnte. Mit einer geschickten Bewegung zog Erika eine Packung extralanger Damenzigaretten und ein knallgelbes Feuerzeug heraus.

      In der Teeküche setzten sich die beiden an den kleinen Tisch am Fenster, Erika gab Nora Feuer und zündete dann ihre überlange schmale Zigarette an.

      »Also, erzähl mal. Liest du wieder?«

      »Nein. Ich sagte doch, drei Monate Lesestreik. Da bin ich konsequenter als du mit deinem Rauchen«, sagte Nora und lachte, während sie genüsslich den Rauch durch die Nase ausblies.

      »Na wart nur, irgendwann sitzt du beim Zahnarzt und greifst nach einer Zeitschrift, und dann liest du dort eine Buchbesprechung, und dann, wirst sehen, dann rennst du nach Haus und stürzt dich auf das erstbeste Buch und liest die ganze Nacht durch. So wird’s sein! Das schau ich mir dann an, deinen Lesestreik!«, sagte Erika und versuchte vergeblich, mit den Lippen den Rauch zu einem Ring zu formen.

      »Und was gibt’s sonst bei dir? Hast du wieder Kontakt mit Vladimir? Und was ist mit diesem anderen, diesem Timothy? Kommt er dich jetzt besuchen oder nicht?«

      »Vladimir hat mir zum Geburtstag eine SMS geschickt, aber ich habe nicht geantwortet. Interessiert mich nicht.«

      Erika nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino, nickte anerkennend und sagte: »Glatte fünf Punkte.«

      »Timothy kommt angeblich Ende des Monats nach Wien«, sagte Nora, »aber das glaub ich erst, wenn ich ihn wirklich vor mir seh. Der hat schon zwei Mal kurzfristig abgesagt, weißt du noch? Letztes Mal hatte er angeblich einen Bänderriss. Ich glaub kein Wort davon. Akutes Manierenversagen nenn ich so was. Diesmal überleg ich ernsthaft, ob ich nicht selbst kurzfristig absagen soll. Einfach so, aus Rache.«

      »Scheiß auf Rache, davon hast du nichts. Sieh lieber zu, dass du ein schönes Wochenende mit ihm verbringst. Bist ja noch jung. Genieß das Leben,

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