Reibungsverluste. Mascha Dabić

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Reibungsverluste - Mascha Dabić

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kann ich die Kinderkriegerei und das ganze Familiendings sowieso vergessen«, lachte Nora und stocherte mit ihrer Zigarettenspitze vorsichtig im Aschenbecher herum.

      »Und, ist das ein Problem?«

      »Nicht wirklich.«

      »Na siehst du. Bist ja noch jung. Red keinen Unsinn, das kommt noch alles.«

      »Aber sicher nicht mit Tim, das steht fest. Alles, was ich so quasi zu bieten habe« – Nora zeichnete mit ihren Fingern ausladende Gänsefüßchen in die Luft –, »das hat er schon, glaub mir. Schöner, größer, besser. In seinem Universum bin ich kein Fixstern, das sag ich dir. Allenfalls so ein kleiner Trabant«, sagte Nora und lachte bitter.

      »Jetzt hörst du aber sofort auf mit diesem Scheiß! So was will ich gar nicht hören. Mit dir kann man überhaupt nicht über Männer reden! Du siehst immer alles so melodramatisch!«

      »Das kommt von der Überdosis an russischer Literatur. Aber damit ist ja jetzt Schluss«, rechtfertigte sich Nora. »Keine Sorge, ich werd mich schon nicht vor einen Zug werfen, wenn Mister Timothy nicht auftaucht.«

      »Na, das will ich hoffen. Aber jetzt mal etwas ganz anderes, was ist eigentlich mit diesem FWF-Antrag?«

      »Frag lieber nicht. Keine Ahnung. Wir warten noch.«

      »Ich drück dir die Daumen.«

      »Weiß nicht so recht. Vielleicht war das alles keine so gute Idee. Stell dir vor, wir kriegen das Projekt. Was dann? Dann muss ich mich jahrelang mit EU-Russland-Beziehungen herumschlagen, und Ukraine-Krise, und die Krim, und Russlands Beteiligung in Syrien, und irgendwelche Dokumente analysieren, Politikerreden interpretieren und so ein Zeug. Ich frag mich, will ich das überhaupt?«

      »Na, das hättest du dir aber vorher überlegen müssen, meine Liebe.«

      »So ist es. Ganz genau so«, sagte Nora resigniert, drückte ihre Zigarette in den Aschenbecher und zündete sich sofort die nächste an.

      »Und was ist mit dir? Hast du dich mit Bernhard versöhnt?«

      »Ja, hab ich. Stell dir vor, am Wochenende waren wir in einer Therme in Ungarn, super war das, ich sag’s dir, urromantisch …«

      Plötzlich ging die Tür auf, und Roswitha steckte ihren Lockenkopf durch.

      »Entschuldigung, da ist jemand am Apparat. Nora, gehst du bitte ran, ich glaub, es ist Russisch.«

      Nora sprang von ihrem Stuhl auf, drückte ihre Zigarette aus und eilte zum Telefon. Es war Frau Sultanowa, die sich dringend einen Termin wünschte, möglichst noch heute, es sei ein Notfall. Nora gab die Information an Roswitha weiter, diese schaute in ihren Kalender und fragte Nora:

      »Bis wann kannst du heute?«

      »Open end«, antwortete Nora, ohne zu überlegen, und hätte sich in diesem Augenblick am liebsten auf die Zunge gebissen.

      »Okay, dann hängen wir einfach eine Stunde an. Sag ihr, sie kann um 17 Uhr kommen.«

      Nora gab den Termin durch und legte auf. Sie würde also mindestens bis 18 Uhr bleiben müssen. Nora verfluchte sich für ihre unbedachte, in vorauseilender Hilfsbereitschaft getroffene Zusage.

      Roswitha lächelte.

      »Danke. Der Herr Achmadow hat uns ja mal wieder versetzt. Wer weiß, was es diesmal schon wieder ist.«

      »Vielleicht hat er eine Arbeit gefunden …?«, warf Nora ein und ärgerte sich wieder über ihre Gedankenlosigkeit. Bei den meisten Psychotherapeuten musste man auf der Hut sein, so viel hatte Nora schon begriffen. Erst seit etwas mehr als einem Jahr war sie mit dieser Berufsgruppe konfrontiert und fühlte sich in der betriebsinternen Kommunikation noch nicht ganz wohl. Die Art, wie die Psychotherapeuten untereinander über die Patienten oder »Klienten« sprachen, gab ihr Rätsel auf. Manchmal klang es wie banaler Tratsch, dann wieder hatte Nora das Gefühl, dass in jedes Wort des Klienten viel zu viel hineininterpretiert wurde, und manchmal wusste sie einfach gar nicht, was sie von dem ganzen Laden halten sollte. Ihr war bewusst, dass da mehr dahinterstecken musste, aber dass sie selbst noch nicht ganz darauf gekommen war, worum es eigentlich ging und welche Begriffe mit welchen Bedeutungen aufgeladen waren. Alles in allem fühlte sich das psychotherapeutische Terrain für Nora wie ein verbales Minenfeld an, auf dem man nicht oft genug den Mund halten konnte. Erika war ihr da eine große Hilfe. Sie konnte in klaren Worten und mit wohldosierter Ironie die Macken und Vorlieben jeder Therapeutin umreißen, sodass Nora in etwa wissen konnte, woran sie bei wem war.

      »Nein, das meinte ich nicht, ob er eine Arbeit gefunden hat oder nicht«, konterte Roswitha auch schon, und Nora beschlich schon wieder dieses ungute Gefühl, etwas Banales und Überflüssiges gesagt zu haben. Si tacuisses, Norotschka

      »Ich denke, es geht um etwas anderes. Weißt du noch, vor zwei Wochen hat er zum ersten Mal wirklich über seine Foltererfahrungen gesprochen. Das ist ihm jetzt wahrscheinlich unangenehm, und deshalb bleibt er uns jetzt eine Weile fern. Aber ich denke, er wird wiederkommen.«

      Und ich denke, er hat letztes Mal erwähnt, dass er vermutlich bald eine Arbeit als Hausmeister bekommt und dass er dann nicht mehr regelmäßig kommen kann, dachte Nora, sagte diesmal aber nichts, sondern nickte nur vage.

       - übersetzen -

      Roswitha kramte in ihrer bunten Filztasche und holte einige Formulare heraus, die in einer blassrosa Aktenhülle steckten.

      »Übrigens, wenn du schon da bist, könntest du mir bitte schnell ein paar Fallberichte ins Englische übersetzen? Das wäre ganz lieb. Ist für die UNO, du weißt schon.«

      Ja, Nora wusste. Das waren diese haarsträubenden Folterberichte, die der Verein jedes Jahr in einer bestimmten Anzahl an die UNO schicken musste, um weiterhin Subventionen zu erhalten. Die UNO, das war für Nora in den Teenagerjahren und in den frühen Zwanzigern eine Oase der Völkerverständigung und des Weltfriedens gewesen. Ein UNO-Praktikum in New York war ihr während ihres Studiums der Politikwissenschaft als das höchste der Gefühle erschienen, und es war nichts anderes als die allzu große Ehrfurcht vor dieser einzigartigen globalen Institution, die sie damals daran gehindert hatte, konkrete Schritte in diese Richtung zu unternehmen. Seit sie als Dolmetscherin mit Folterüberlebenden arbeitete, hatte sie die banale bürokratische Seite der UNO kennengelernt, mit Formularen und Statistiken. In den Telefonaten mit Genf ging es um board meetings, bei denen über die Subventionen entschieden wurde, und als eines Tages eine hübsche junge UNO-Mitarbeiterin hereingeschneit kam, um sich den subventionierten Laden vor Ort anzusehen, da hatte sich bei Nora in die aufrichtige Bewunderung gegenüber der weltgewandten vielsprachigen Dame auch eine Prise Erleichterung eingemischt, dass sie, Nora, diesen Weg der globalen Bürokratie doch nicht beschritten hatte. Vielleicht waren es aber auch nur saure Trauben, dachte Nora später, wer konnte schon wissen, welche Tricks das Gehirn mobilisierte, um sich die momentane Misere schönzureden.

      Nora hasste es, diese Case Studies zu übersetzen, die »Käs-Staddis«, wie Erika schrieb, wenn sie die ausgefüllten Formulare per Mail an Nora verschickte. Die Berichte wurden zwar anonymisiert, aber häufig gelang es Nora, die Foltergeschichten einigen bekannten Klienten zuzuordnen.

      Sie fand es verstörend, wie sich eine Lebensgeschichte, die sich in vielen intensiven Gesprächen wie ein Mosaik allmählich zusammenzusetzen begann, in der Sprache der Bürokratie auf eine »Foltergeschichte« reduzieren

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