Der USB-Stick. Jean-Philippe Toussaint
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Was die Zukunftsforschung nicht war, nichts einfacher als das. Die Strategische Zukunftsforschung ist keine Hellseherei. Es geht keineswegs um Weissagung oder um Prophezeiung. Sie ist in keinem Fall Wahrsagerei, noch nicht einmal, was die Allgemeinheit im mindesten von ihr erwartet, Prognose. Nein, die Strategische Zukunftsforschung sagt nicht die Zukunft voraus. Die Zukunft ist lediglich der Gegenstand ihrer Forschung, und um sie zu erforschen, verfügen wir über ein breites Spektrum bestens ausgearbeiteter methodologischer Verfahren, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden und seither perfektioniert wurden, Instrumente wie zum Beispiel die Delphi-Methode, Modellierungen, Extrapolationen und Szenarien. Die Zukunftsforscher bilden eine recht eng begrenzte Gemeinschaft, in der wir uns nur auf Englisch verständigen, obwohl wir alle polyglott sind und jeder von uns zwei, manchmal sogar drei oder vier Sprachen beherrscht. Man begegnet zwangsläufig mehr oder weniger immer denselben Gesichtern auf den Symposien und internationalen Konferenzen, bei denen wir uns zwei oder drei Mal im Jahr treffen, etwa beim jährlichen Kongress der World Future Society oder bei der Association of Professional Futurists. Mein Freund Peter Atkins veranstaltet jedes Jahr eine Sommerfrische vor der hochherrschaftlichen ländlichen Kulisse von Hartwell House unweit von London. Wir unsererseits empfangen in Brüssel an die vierhundert Experten aus der ganzen Welt zu unserer Konferenz Analyse Technologique de la Prospective (die das hübsche Akronym ATP ergibt, welches an das der Association of Tennis Professionals erinnert). Wir bilden eine relativ homogene Truppe, und wie jede Gemeinschaft sind wir durch ein unsichtbares Netz von Sympathien und Antipathien, von Freundschaften und Feindschaften verbunden, durch versteckte Eifersüchteleien und Animositäten, Sippschaften und Cliquen, ein Netz, das tief unter der Oberfläche unsere Gemeinschaft durchzieht, ebenso wenig sichtbar wie dessen Verbindungen auf der Oberfläche. Auch wenn wir in einem geschlossenen System leben, sind wir dennoch weniger inzestuös als etwa eine königliche Familie oder ein Philharmonieorchester. Vielfältig Eingebrachtes von außen, von Wissenschaftsexperten, Ingenieuren und Politikern, durchlüftet regelmäßig unseren begrenzten Kreis, und durch den immer wieder erneuerten Mestizenbeitrag von Gedanken wird unser Sumpf unaufhörlich aus seiner Erstarrung gerüttelt. Und diese ganze schöne Welt hat natürlich allein die Zukunft im Sinn. Um es jedoch gleich vorwegzunehmen, die Zukunft existiert nicht – zumindest noch nicht.
So exzellent unsere Methoden auch sein mögen, die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen. Wie könnten wir etwas vorhersagen, das noch nicht existiert? Die Zukunft, wenn wir sie vom Heute ausgehend erforschen (und wovon sonst als der Gegenwart könnten wir ausgehen?), bleibt etwas sich ständig Änderndes, Instabiles, Unbestimmtes, Unschlüssiges, wie ein unendlicher, ewig sich im Wind wandelnder Himmel, der eben noch ruhig war, dann plötzlich stürmisch ist. Sie kann verschiedenste Formen annehmen, ihre Konturen dehnen sich in kontinuierlichem Wechsel, vermischen sich, ihre Grenzen werden verschoben, während ihr eigentliches Wesen uns gänzlich unbekannt bleibt. In dem Moment, in dem wir die Zukunft beobachten, ist sie noch nicht erschienen. Durch die grundlegende Ungewissheit und ihre bedrohliche Unbestimmtheit war die Zukunft seit jeher für den Menschen eine Quelle des Unbehagens. Unbehagen, ja. Der Mensch (und ich im Besonderen) hat angesichts der Zukunft schon immer ein irrationales Unbehagen empfunden. Er dachte seit jeher, die Zukunft könne eine Gefahr in sich bergen, und um diese abzuwenden, brachte man seit der Antike alle möglichen Praktiken und Abwehrrituale in Stellung, um diese Angst zu bannen. Jahrhundertelang glaubte der Mensch, die Zukunft erschließe sich ihm nicht, dass sie Gott gehöre, dass sie eine Sphäre sei, die für Mächte reserviert ist, die über seinen Verstand gehen. Um etwas von der Zukunft zu erahnen, um einen Zipfel des Schleiers von dem zu lüften, was sie für uns bereithielt, manchmal etwas vom Besten, meist etwas vom Schlimmsten, zog man Auguren oder Orakel zu Rate. Heute blicken wir mitleidig auf solch archaische Praktiken. Unsere Vorgehensweise versteht sich rationaler, wissenschaftlicher. Wir versuchen nicht, die Zukunft vorherzusagen, sondern nur, sie vorzubereiten, was uns zu der Überlegung führt, das Zukünftige nicht als ein zu erforschendes, sondern als ein zu bebauendes Gebiet zu betrachten. Dem französischen Philosophen Gaston Berger verdanken wir die wesentliche Einsicht, dass die Zukunftsforschung untrennbar mit Handeln verbunden ist. Wenn man sich mit der Zukunft beschäftigt, dann nicht als Ästhet oder passiver Beobachter, sondern in zweckorientierter Absicht, im Dienste des Handelns und der politischen Entscheidung. Die Zukunft darf nicht als etwas bereits Feststehendes betrachtet werden, vielmehr als etwas Offenes, noch zu Konstruierendes, etwas, worauf heutige Entscheidungen noch einen Einfluss haben. Aber der wirkliche Patron der Zukunftsforschung ist der Amerikaner Herman Kahn. Herman Kahn ist Wegbereiter und Legende der Strategischen Zukunftsforschung. Er ist Begründer der berühmten Methode der Szenarien. Als Kahn Mitte der 1950er Jahre einen Überbegriff für seine hypothetischen Darstellungen suchte, die er im Rahmen seiner Zukunftsforschung anwandte, und nach einer Diskussion ein Drehbuchautor aus Hollywood ihm erzählte, der Begriff scenario sei beim Film zugunsten von screenplay fallen gelassen worden, übernahm er einfach den Begriff, um damit seine fiktiven Forschungsberichte zu benennen, die Situationen beschreiben, die sich in der Zukunft ereignen könnten. Wie mein Freund Peter Atkins oft anmerkte, behaupten Franzosen gerne, Amerikaner seien rigide und deterministisch in Sachen Zukunftsforschung, liest man jedoch die Schriften Herman Kahns, wird klar, dass Kahn viel entspannter ist, als man es ihm allgemeinhin zutraut, hatte er doch die Traute besessen, ein aus Hollywood stammendes Wort als Überbegriff der in der Zukunftsforschung ausgearbeiteten Fiktionalisierungen zu wählen. Als Autor des äußerst umstrittenen Buches Über den Nuklearkrieg, mit dem er in den 1960er Jahren in den Medien Aufsehen erregte, hat Kahn viel Zeit darauf verwandt, mögliche Szenarien eines Atomkrieges mit der Sowjetunion zu entwerfen und kühl unter Zuhilfenahme verschiedener Tabellen mögliche Strategien zu entwickeln, mit denen die Vereinigten Staaten einen Atomkrieg »gewinnen« könnten. Er unterschied zehn Arten von Krisen und bemühte sich, den Nachweis zu erbringen, dass ein Überleben der Vereinigten Staaten bei einer vorgeschalteten guten Vorbereitung mit einiger Wahrscheinlichkeit denkbar sei. Die klinisch sauberen Hochrechnungen der Toten in jeder der von ihm erarbeiteten Szenarien, methodisch exakt in Grafiken ausgewiesen, gingen von der niedrigsten Hypothese (zwei Millionen Tote), bis hin zur höchsten (160 Millionen Tote), was bei Veröffentlichung des Buchs einen Aufschrei der Empörung auslöste. Seine Kritiker warfen ihm die Leichtfertigkeit vor, mit der er mit dem nuklearen Feuer spielte, und klagten ihn an, zu einem Massenmord aufzurufen. Kahn war zu diesem Zeitpunkt aber schon zu verstrickt in seine Obsessionen und seine makaberen Hochrechnungen und stand am Ende da wie ein monomaner Illuminat, so sehr, dass er zu einem der Vorbilder wurde für Doktor Seltsam in Stanley Kubricks Film Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben.
Meist weniger berühmt als die legendären Kunstfiguren wie Doktor Seltsam oder Citizen Cane sind die bedeutenden Köpfe der Zukunftsforschung, die dem großen Publikum im Allgemeinen unbekannt bleiben. In diese Porträtgalerie bizarrer Persönlichkeiten gehört das einzigartige Bildnis von Pierre Wack. Der Franzose Pierre Wack, der nicht nur ein Franzose war (also per definitionem leicht verrückt, wie mein Freund Peter Atkins es zu sagen pflegt), sondern ein wahres Original (ein unkonventioneller Franzose, wie es einer seiner Biographen etwas schönfärberisch schreibt), war ein richtiger Hippie, der nach Indien pilgerte, um seinem Guru Swami Prajnanpad einen Besuch abzustatten, und der seine Tage im Büro im Lotussitz meditierend zubrachte. Und diesen komischen Kauz beauftragte die Geschäftsführung von Royal Dutch Shell Mitte der 1960er Jahre, ein neues System für die weltweiten Aktivitäten der Ölfirma einzuführen, von der Förderung des Erdöls bis hin zum Vertrieb des Benzins an den Tankstellen. Pierre Wack (dessen witziger Name an den französischen Komödianten Pierre Dac erinnert) bezog darauf in London im neuen Shell-Hochhaus ein privates Büro, in dem beständig eine Räucherkerze brannte und unser Experte in weißem Kimono und thailändischer Hose barfuß und nachdenklich über den Teppichboden entlang der verglasten Fensterfront des Shell-Hochhauses wandelte, das das Südufer der Themse überragt. Da er die bisher üblichen Fünfjahrespläne von Shell als Auslaufmodell betrachtete und erkannte, dass in den bis dahin zur Anwendung gebrachten Zukunftsmodellen zu wenig die äußeren Gegebenheiten auf diese Industrie mit ins Kalkül einbezogen wurden, führte Pierre Wack von nun an Shell auf den Weg der Szenarien, die von 1971 an schließlich an die Stelle der traditionellen quantitativen Vorhersagen des multinationalen Konzerns traten. Und