Der USB-Stick. Jean-Philippe Toussaint
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Im Herbst 2016 fand die öffentliche Vorstellung meines Berichts im Europäischen Parlament statt. Woraufhin ich von Lobbyisten angesprochen wurde. Es ist gut denkbar, dass dies ein normaler Vorgang ist, aber ich für meinen Teil wurde in den mehr als zehn Jahren meiner Tätigkeit in Brüssel (ich bin 2004 zur Europäischen Kommission gekommen) niemals auf eine derartige Weise angegangen. Natürlich trifft man im Laufe der Jahre auf den Straßen des Europaviertels häufiger auf einen Lobbyisten. Nichts in seiner Haltung oder Wortwahl unterscheidet den Lobbyisten von einem Europabeamten. Sie haben das gleiche Erscheinungsbild, haben dasselbe studiert, wissen genau, wie die Institutionen funktionieren. Wie alle anderen hier sprechen sie ein mehr oder weniger globalisiertes Englisch und teilen mit uns dieselben sprachlichen Gewohnheiten, eine für normale Menschen undurchsichtige, weil kodierte Sprache, die wie ursprünglich jeder Dialekt dazu dienen soll, eine klar umrissene Gruppe zu bilden und ihren Zusammenhalt zu festigen. Bei Lobbyisten – die sich gerne in aller Bescheidenheit als »Interessenvertreter« bezeichnen – handelt es sich nebenbei bemerkt häufig um frühere Kollegen, die in die Privatwirtschaft gewechselt sind, die gemäß dem hübschen Ausdruck »Drehtür-Effekt« den Sprung geschafft haben und aus dem paradiesischen Licht der Europäischen Kommission (die, wie jeder weiß, das Gemeinwohl schützt) in den mephistophelischen Schatten des Schutzes privater Interessen gewechselt sind. Lobbyisten üben unsichtbare Einflüsse aus. Sie stellen persönliche Verbindungen bis in höchste Kreise her, sie steuern unsichtbare Initiativen und handeln im Verborgenen, um für spätere Dossiers Vorteile zu schaffen, wenn nicht für die Privatinteressen, die sie vertreten, dann für das öffentliche Gemeinwohl, das sie in Ehren halten. In Brüssel gibt es dreißigtausend Lobbyisten, fast so viele wie in Washington, der Stadt mit der höchsten Anzahl weltweit, und sie sind verpflichtet, in der Ausübung ihrer Aufgaben bei jeder Gelegenheit und an jedem Ort zuvorkommend und höflich lächelnd aufzutreten (oder hat man jemals unsympathische Schwindler gesehen?).
Nachdem ich im September meinen Bericht vorgestellt hatte, wurde ich also in einem Gang des Parlaments von zwei Männern angesprochen, und hier hätte die Geschichte auch schon enden können, denn ich war durchaus entschlossen, nicht auf ihre Avancen einzugehen. Mit meinen Unterlagen unter dem Arm durchquerte ich die Menschenmenge weiter in Richtung Ausgang, hörte ihnen kaum zu, als sie mir zu meinem Vortrag gratulierten und sich in einem hohen Maß an meiner soeben gemachten Ankündigung einer von Europa entwickelten Blockchain interessiert zeigten. Sie würden sich glücklich schätzen, von mir mehr darüber zu erfahren, und wünschten, mich innerhalb der nächsten Tage noch einmal zu treffen, um den Punkt zu vertiefen. Instinktiv war ich vor ihnen auf der Hut und versuchte, sie mit dem Hinweis auf die öffentliche Ausschreibung der Gemeinsamen Forschungsstelle für Wissenschaftliche Beratung abzuwimmeln. Aber die beiden Männer ließen sich nicht entmutigen, geduldig lächelnd folgten sie mir weiter taktvoll an meiner Seite durch die Gänge des Europäischen Parlaments, ohne auch nur ein wenig von mir zu lassen. Sie erlaubten sich in aller Höflichkeit, nochmals auf ihr Anliegen zurückzukommen und erklärten mir, sie würden für eine sehr wichtige internationale Klientel arbeiten, vor allem aus Asien. An diesem Tag war ich in Eile (ein Taxi wartete auf mich an der Place du Luxembourg), und ich beließ es beim Austausch von Visitenkarten, bevor ich mich verabschiedete. Im Taxi warf ich einen schnellen Blick auf ihre Karten, mit ihren Namen und Funktionen und einem esoterischen Firmenlogo. Sie arbeiteten für eine Beratungsgesellschaft mit Sitz in Brüssel, die XO-BR Consulting, der eine hieß John Stavropoulos, der andere Dragan Kucka. Ich steckte die Karten in mein Jackett und dachte nicht mehr daran. In den folgenden Tagen wurde ich erneut von John Stavropoulos kontaktiert, der nicht davon abließ, mich zu einem Treffen überreden zu wollen. Ich antwortete wieder ausweichend, etwas willenloser dieses Mal, ich war doch neugierig geworden wegen des Begriffs »Blockchain«, der im Namen der Gesellschaft, für die er arbeitete, auftauchte, Consulting company for the development of blockchain and digital currencies. Er kam erneut darauf zu sprechen, dass die XO-BR Consulting eine spezialisierte Beratungsfirma für die Entwicklung von Blockchain-Technologien sei, und versicherte mir, seine Gesellschaft kenne sich so gut wie keine andere auf dem europäischen Markt aus. Ihm zufolge waren sie überhaupt die Einzigen in Brüssel, die in der Lage waren, eine hundertprozentig europäische Blockchain auf die Beine zu stellen, die zudem noch ausschließlich auf unserem Kontinent entwickelt werden könnte, ohne die Hilfe großer amerikanischer oder chinesischer Unternehmen in Anspruch nehmen zu müssen. Nachdenklich geworden hörte ich ihm am Telefon zu. Ich war aufgestanden und überlegte, starrte durch das große Glasfenster meines Büros auf ein Ensemble von Gebäuden weit entfernt im Herbstgrau. Seit mehreren Monaten schon dachte ich darüber nach, wie dringend notwendig die eigenständige Entwicklung einer unabhängigen europäischen Blockchain wäre. Es war für uns unumgänglich, uns bei einer so sensiblen Technik von der Abhängigkeit von China oder von den Vereinigten Staaten zu befreien. Es handelte sich mit Sicherheit um das große Thema zukünftiger Geopolitik. Früher oder später würde es die Organisation unseres Geldverkehrs, unseres Gesundheitswesens und sogar unserer Sicherheit betreffen, die einmal von der Blockchain-Technologie verwaltet werden könnten. Europa durfte sich nicht den Luxus erlauben, auf diesem Gebiet von China oder den Vereinigten Staaten abhängig zu sein (die angebliche Neutralität dieser Technologie ist natürlich nichts als Augenwischerei). Aus diesem Grund war ich trotz meines Misstrauens John Stavropoulos gegenüber von dem gefesselt, was er mir zu erzählen hatte. In meiner Neugier, mehr über die Aktivitäten der XO-BR Consulting zu erfahren, stimmte ich schließlich einem Treffen zu.
Nach diesem ersten Aufeinandertreffen hatten sie mich in gewisser Weise am Haken, und ich sah John Stavropoulos und Dragan Kucka noch mehrere Male. Ich traf sie jeweils in aller Diskretion und war mir völlig darüber im Klaren, dass unsere Treffen gegen die Regeln der Kommission verstießen, die ausdrücklich inoffizielle Beziehungen zu Lobbyisten untersagten. Bei unserem ersten Treffen war ich auf der Hut geblieben, hatte sorgfältig darauf geachtet, mich nicht zu weit vorzuwagen, keine vertraulichen Informationen preiszugeben. Ich für meinen Teil hatte nur eine rein theoretische Vorstellung von der Blockchain. In meinem Büro hatte ich mir anhand von Quellen und Berichten eine Meinung gebildet, während Stavropoulos und Kucka praktische Erfahrung auf dem Gebiet vorzeigen konnten. Sie kannten bestens die einschlägigen Firmen und unterhielten enge Beziehungen zu deren Managern. Um an diesem konkreten Wissen teilzuhaben, wollte ich den Kontakt zu den beiden nicht abbrechen lassen. Tatsächlich handelte es sich, um genau zu sein, bei den beiden Lobbyisten, die sich um mich kümmerten, um drei (eigentlich sogar um vier, wie bei den drei Musketieren), alle vier akkreditiert bei der Europäischen Kommission mit freiem Zugang zum Parlament. Sie kamen nie gemeinsam, sondern in verschiedenen Konstellationen, deren Bedeutung mir entging, es war jedoch die ursprüngliche Besetzung mit dem Paar Stavropoulos und Kucka, mit der ich es hauptsächlich zu tun bekam, den beiden Vögeln, die mich am ersten Tag nach meiner Präsentation im Parlament abgefangen hatten. Bei unserem dritten Treffen sah ich sie aber zu dritt kommen, ein ziemlich magerer Typ hatte sich ihnen angeschlossen, der kein einziges Mal den Mund aufmachte, dann kamen sie mit einer Frau, die mir als Yolanda Paul vorgestellt wurde, eine hübsche junge Frau im Trenchcoat, mit Schal und Sonnenbrille. Auf ihrer Visitenkarte war als Funktion angegeben: Senior Managing Director Financial Services, Growth & Strategy, ein recht schnarchiger Titel, der mir nicht gerade auf die Sprünge half, was genau sie machte. Mir gelang es auch nicht, genau herauszufinden, welcher Nationalität sie angehörte, weder ihr Name (Yolanda Paul) noch ihr Akzent (ihr Akzent im Englischen, weil unsere Gespräche immer auf Englisch stattfanden) erlaubten mir, klarer zu sehen. Vor allem verstand ich nicht, welche Rolle sie innerhalb der Gruppe spielte, stand sie in der Hierarchie über den anderen und war gekommen, um die beiden zu kontrollieren, oder sollte sie mir gegenüber eine andere, zwiespältigere Rolle spielen, um nicht zu sagen eine explizit sexuelle (ich war auf alles gefasst). Jedenfalls gelang es ihr einmal, mich allein zu treffen. Ich kam gerade aus meinem Büro, als sie mir auf der anderen Straßenseite auffiel, wie sie mir auflauerte. Sie setzte sich sofort in Bewegung, kam quer über die Straße auf mich zu und schlug vor, ein Glas im Viertel trinken zu gehen. Mir fiel auf, dass sie geschminkt