Der USB-Stick. Jean-Philippe Toussaint

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Der USB-Stick - Jean-Philippe  Toussaint

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bereit wäre, um mir seine technischen Anlagen vorzuführen. Und, um mich vollends zu überzeugen, führte er nochmals ins Feld, dass die BTPool Corporation nichts mit der Ausschreibung der Kommission zu tun habe. Es gebe also für mich keinerlei Risiko eines Interessenkonflikts. Nicht wahr? Darf ich also für Sie ein Treffen in Dalian vereinbaren?, fragte er in einem heiteren Ton, als hätte er mich gerade auf einen zweiten Kaffee eingeladen.

      John Stavropoulos war ein sympathischer Mensch, er hatte etwas Überzeugendes und Verführerisches. Er war einer von denen, die im wirklichen Leben den Eindruck vermitteln, sich in einem Universum der Fiktion zu bewegen, und seine romanhafte Gegenwart mir gegenüber schien aus der Szenerie des Hotels Thon Hotel Bristol Stephanie, in dem er sich mit mir an diesem Tag verabredet hatte, so völlig herauszufallen. Es war ein unwirklich erscheinendes Hotel in der Avenue Louise, die Gäste waren meist aus dem Mittleren Osten. Aber zu dieser Stunde waren die Räume leer. Wenn wir uns trafen, versuchte John Stavropoulos die geschäftliche Seite in den Hintergrund zu rücken und mich auf ein persönlicheres, fast privates Terrain zu lotsen, so als ob zwei alte Freunde von der Universität einmal die Zeit für einen Kaffee zwischen zwei Terminen gefunden hätten. Er verstand es, Wogen zu glätten, und ließ gerne das eine oder andere Mal eine persönliche Anspielung einfließen, zögerte niemals, um die Komplizenschaft zu verstärken, die er zwischen uns herzustellen versuchte. Zum Beispiel erwähnte er das Netzwerk Futuribles International, für das ich in den 1990er Jahren gearbeitet hatte, bevor ich zur Europäischen Kommission gewechselt war. Und wie groß war meine Überraschung, als er von einem Satz zum anderen wie beiläufig vom Englischen ins Französische wechselte und mir in seinem unmöglichen Akzent von der »roue sainte gai home« erzählte (im ersten Moment hatte ich nicht einmal verstanden, dass er von der Rue Saint-Guillaume sprach). Ich habe sogar vergessen, was er vorher gesagt hatte, die Rue Saint-Guillaume schien urplötzlich und ohne schlüssigen Zusammenhang in unserem Gespräch aufgetaucht zu sein. Ich blieb bewegungslos sitzen, mein Blick wurde starr. Ich war an diesem regnerischen Oktobernachmittag hier in Brüssel in Begleitung von John Stavropoulos in einem Salon des Thon Hotel Bristol Stephanie, verharrte in nachdenklicher Stimmung, während langsam Erinnerungen an meine Jugend in Paris in mein Gedächtnis eindrangen. Denn die Rue Saint-Guillaume hatte für mich, mehr noch als für irgendeinen anderen ehemaligen Studenten der Sciences Po, eine ganz besondere Bedeutung, da sie mir sowohl die Nummer 27 der Rue Saint-Guillaume in Erinnerung rief, wo sich das Institut der Politikwissenschaften befindet und wo ich studiert hatte, aber sie beschwor vor allem für mich, und nur für mich allein – und wie konnte John Stavropoulos das wissen? – Erinnerungen an das Haus mit der Nummer 12, in dem ich von den 1970er Jahren an mehr als fünfzehn Jahre mit meinen Eltern lebte.

      Genau unter dieser Adresse, in der Rue Saint-Guillaume Nummer 12 hatten sich nämlich meine Eltern Mitte der 1970er Jahre niedergelassen, die ganze Familie hatte Brüssel verlassen, wo wir bis dahin gewohnt hatten, um nach Paris zu ziehen, weil mein Vater einen Ruf an die UNESCO bekam. Es ist mir schleierhaft, wie John Stavropoulos Kenntnis von diesem Detail meiner Biographie hatte bekommen können, aber seine Erwähnung der Rue Saint-Guillaume, ob schlichte Andeutung oder kalkulierte Anspielung, brachte mich aus dem Konzept. Ich hatte das unangenehme Gefühl, er hätte diesen Wink mit dem Zaunpfahl gezielt eingesetzt, um mir deutlich zu machen, dass er nicht nur alles über mich wusste, sondern es ihm auch darauf ankam, mich das wissen zu lassen, um mir klarzumachen, dass ich in meiner Wahl, seinen Vorschlag anzunehmen oder nicht, vielleicht doch weniger frei war, als ich es bis dahin angenommen hatte. Zum ersten Mal wurde mir in solcher Deutlichkeit bewusst, dass hinter all seiner Redseligkeit und Konzilianz etwas Eisiges in John Stavropoulos’ Haltung steckte. Er hatte sich im Vorfeld unserer Treffen über mich erkundigt, das stand fest. Akribisch musste er über meine Vergangenheit Erkundigungen eingezogen haben und kannte viele Details aus meinem Privatleben (vielleicht sogar mehr, als ich vermuten konnte), und er würde nicht zögern, sie gegen mich zu verwenden, wenn es nötig werden würde. Aber noch mehr Unbehagen bereitete mir, dass er bei eben jenem Treffen noch eine Bemerkung über meinen Vater fallen ließ, die mir unpassend erschien, sogar unschicklich. Es stimmt, mein Vater war für mich ein heikles Thema (und sicherlich nicht nur für mich, es gilt für die meisten Vater-Sohn-Beziehungen). Wir waren in unserem Gespräch wieder auf die Politik der Forschungsförderung zurückgekommen und gingen all jene öffentlichen Organisationen durch, die in Europa solche Fördertöpfe unterhalten, als John Stavropoulos ziemlich direkt auf meinen Vater zu sprechen kam. Jean-Yves Detrez, das ist doch Ihr Vater, nicht wahr?, fragte er mich plötzlich. Meinen Sie, es wäre denkbar – und er unterbrach sich sofort, vielleicht wegen meines schwarzstarr gewordenen Blicks. Ich verstand, er wollte bei aller Vorsicht und ohne ausdrücklich eine unangemessene Bitte zu formulieren, das Terrain sondieren, um zu sehen, ob es nicht möglich war, auch meinen Vater mit in die Sache hineinzuziehen – meinen Vater, der früher einmal der für Forschung und Bildung zuständige Europakommissar gewesen war. Aber er fing sich sofort wieder und fuhr mit der Unterhaltung fort. Wie geht es Ihrem Vater, fragte er mich, lebt er noch? Ich bejahte, mein Vater lebt noch und, ohne weiter darauf einzugehen und um diese Ebene zu verlassen, das Thema unseres Gesprächs zu wechseln, sagte ich trocken, wie mechanisch, mit einer der Situation perfekt angemessenen Formel, es geht ihm gut.

      In den Tagen nach diesem Treffen hörte ich nichts mehr von John Stavropoulos. Ich vergrub mich wieder in meine tägliche Arbeit, verbrachte lange Tage im Büro, bearbeitete meine Unterlagen, langatmige Studien über die Sicherheit von Lebensmitteln oder künftige Tendenzen der Migration. Ich versah die aktuellen Dossiers mit Anmerkungen, empfing das Team in meinem Büro. Zu dieser bereits beträchtlichen Arbeit kam die Vorbereitung der Arbeitsgruppe, die sich mit der Auswertung der ersten Ergebnisse unserer Delphi-Befragung zum Quantencomputer befassen sollte. Diese Untersuchung zur Quantentechnologie wurde gemeinsam mit einer Einheit durchgeführt, die ihre Basis in Ispra in Italien hatte und mit der wir in Fragen der Datensicherheit zusammenarbeiteten. Ich fuhr normalerweise ein- oder zweimal im Jahr dorthin, das Gelände, das der Gemeinsamen Forschungsstelle für Wissenschaftliche Beratung gehört, umfasst etwa hundert Gebäude und Laboratorien, die verteilt sind auf einem mehrere Hektar großen, abgesicherten Gelände etwas außerhalb des Dorfs am Ufer des Lago Maggiore. An die zweitausend Leute arbeiten hier, EU-Beamte, Forscher und Wissenschaftsexperten aus ganz Europa. Da mein Terminkalender bereits übervoll war und ich mir in der kommenden Woche keine Dienstreise nach Ispra erlauben konnte, erledigte ich alles für die Vorbereitung der Arbeitsgruppe Nötige in Videokonferenzen. Etwa zwanzig Teilnehmer wurden in Brüssel zu dieser Arbeitsgruppe über den Quantencomputer erwartet, die in unseren Räumen stattfinden sollte, und als Einladende oblag es uns, die Abwicklung und Organisation sowie die Vorbereitung der Tagesordnung des Treffens zu übernehmen.

      Ich arbeitete den ganzen Tag an der Zukunft. Die Zukunft war für mich ein völlig abstrakter Begriff geworden, ein einfacher Begriff, Datenmaterial letztlich, das ich mit den Werkzeugen, die mir zur Verfügung standen, in meine Arbeit integrierte, um von ihr ein Modell zu erstellen und sie in spekulativer Weise zu bearbeiten, in einem abgegrenzten Rahmen und nach präzisen Regeln. Ich war ein Experte für die Zukunft geworden, aber einer für die Zukunft der Lebensmittelversorgung, für die Zukunft der Nato – für die Zukunft der Welt, aber niemals für meine eigene Zukunft. Hätte man mich zu diesem Zeitpunkt gebeten, einen Augenblick über meine eigene Zukunft nachzudenken, darüber, was die nächsten Monate oder Jahre für mich bereithielten, hätte man mich gefragt, was mir die Zukunft bringen würde, was ich in zwanzig Jahren sein würde oder auch nur in zwei Jahren, ich wäre zu keiner Antwort fähig gewesen. Ich hatte das Gefühl, keine eigene Zukunft mehr zu besitzen. Seitdem die Ehe mit Diane schwierig geworden war, erschien mir mein eigener Horizont unwiderruflich blockiert. Seit Monaten fühlte ich mich wie festgefahren in einer ewigen Gegenwart. Diane und ich sprachen nicht mehr miteinander, wir sprachen nicht mehr seit dem Sommer (und selbst davor nicht, ich frage mich, ob wir je einmal miteinander gesprochen haben). Unsere Beziehung hatte sich im Laufe der Jahre Schritt für Schritt aufgelöst. Unsere Ehe, oder was davon übriggeblieben war, brach schließlich auseinander. Gut zwei Jahre schon hatten wir nebeneinander her gelebt, wie Schatten, als Fremde, in der großen Wohnung in der Rue Belle-Vue, mit Thomas und Tessa, unseren Zwillingen, die in die Grundschule gingen, und teilten sie uns für die Ferien auf (jeder von uns könnte je einen der beiden übernehmen, hatte ich vorgeschlagen, was Diane nicht zum Lachen fand, sie

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