Der USB-Stick. Jean-Philippe Toussaint
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In den vergangenen Jahren habe ich hin und wieder Science-Fiction-Romane gelesen. Ich erinnere mich auch, im Kino mehrere Episoden von Star Wars gesehen zu haben. Eine schon vor längerer Zeit, noch im 20. Jahrhundert, vielleicht war es 1999. Was für ein seltsam anmutendes Datum, dieses 1999, mit dieser langsam und still in der Zeit versiegenden Schleppe von Neunern, wie ein Kometenschweif im interstellaren Raum. Und doch haben wir diese Zeit, als wir den Moment lebten, als völlig normal betrachtet, vielmehr die Jahre, die mit 2000 begannen, damals als unnatürlich empfunden. Ich habe die erste Episode von Star Wars, Die dunkle Bedrohung, in Rom mit meinem älteren Sohn Alessandro gesehen, der zu dieser Zeit etwa neun oder zehn Jahre alt gewesen sein dürfte. Ich war für ein langes Wochenende nach Rom gekommen, um Alessandro zu sehen, der dort nach unserer Trennung mit seiner Mutter lebte, und ich hatte ihn mit in Star Wars genommen. Es war ein unerträglich heißer Augusttag, und ich erinnere mich noch an die wohltuende Kühle, die im Dunkel dieses klimatisierten Kinosaals in der Nähe der Piazza Barberini herrschte. Alessando saß neben mir in Shorts und einem Trikot von AS Rom und schaute fasziniert auf die mönchischen Gestalten der Jedi-Ritter, die sich, vermummt in Kapuzen und braunen Wollmänteln, mit Laserschwertern bekämpften. Ich meinerseits schaute gleichermaßen auf die Filmleinwand wie auch auf meinen Sohn, dessen kleine Augen ich in der Dunkelheit kaum wahrnehmen konnte und der mit offenem Mund und starr mit einer Eistüte in der Hand in fast religiöser Hingabe den weisen Sprüchen von Meister Yoda folgte. Il paura è la via per il lato oscuro. Wir sahen einen italienisch synchronisierten Film. Mein Sohn konnte die Untertitel noch nicht fließend lesen. La paura porta a la rabbia. La rabbia porta all’ odio, l’odio conduce alla sofferenza, fuhr Meister Yoda fort (das ist gut, was?, wandte ich mich von Zeit zu Zeit zu meinem Sohn, um ihn zum Zeugen zu nehmen).
Erst vor kurzem, als ich nach einem Arbeitstag in Brüssel abends nichts vorhatte, schaute ich mir gedankenlos im Programm eines flämischen Senders eine neuere Episode von Star Trek in der Originalfassung mit holländischen Untertiteln an. Doch in den Tagen danach, wenn ich über die Art und Weise nachdachte, in der im Film die Zukunft dargestellt worden war, fing auch ich an zu überlegen, wie unsere Welt in einer weit entfernten Zukunft tatsächlich aussehen könnte, wobei ich versuchte, die wirklich denkbaren Entwicklungen der Menschheit hochzurechnen, um in einem idealen Zukunftsfilm einen realistischeren Überblick über die Zukunft zu bekommen. Das war in der Tat genau das, was ich besser hätte sein lassen sollen. Das war die völlige Abkehr von dem, was ich ständig vermeiden wollte, wenn man mich danach fragte, was die Zukunft für uns bereithielt. Aber ich wollte, weil ich schon einmal dabei war, mit meinen Träumereien noch nicht aufhören, trotz des (begründeten) Vorwurfs, den ich mir selbst hätte machen können. Auch wenn die Erkenntnisse, zu denen ich, gestützt auf die neuesten Forschungen der Wissenschaft, gelangt war, sicherlich von keiner großen Bedeutung waren (ich habe sie übrigens alle recht schnell vergessen), war ich doch mit meiner eigenen Schlussfolgerung ziemlich zufrieden, die darauf hinauslief, dass alle Elemente, die man in einen Science-Fiction-Film einbauen kann, alle nur vorstellbaren technologischen Extravaganzen, ob Maschinen, Roboter, Weltraumschiffe oder interstellare Reisen, alle biotechnologischen und transhumanen Spielarten, all dieser futurologische, mit Spezialeffekten vollgestopfte Klimbim nicht an das Wirkungsvollste und wirklich Verblüffendste heranreichen, was es auf der Leinwand zu sehen gibt – denn das Glaubwürdigste und am meisten Bewegende, das Schönste und auch Zauberhafteste sind die Szenen, in denen es regnet.
In der Strategischen Zukunftsforschung spannt sich die Vorhersage allgemeinhin über Zeiträume bis zu etwa fünfzig Jahren, wobei man nie über das Jahr 2100 hinaus forscht, das ist unsere längste Zeitspanne, der nicht zu überschreitende Horizont. Aber der Begriff der längsten Zeitspanne ist sehr relativ, die Experten der IAEO, der Internationalen Atomenergie-Organisation, rechnen bei Halbwertszeiten nuklearer Abfälle mit einem Zeithorizont von hunderttausend Jahren. Das Problem mit diesem in großer Tiefe gelagerten radioaktiven Atommüll liegt darin, wie man künftigen Generationen auf verständliche Weise die Information übermitteln, wie man sie darauf aufmerksam machen soll, dass im Boden hochgiftige nukleare Abfälle mit einer Verfallszeit von einhunderttausend Jahren oder mehr lagern. In welcher Sprache beispielsweise soll man an der Erdoberfläche Hinweise zur Lokalisierung hinterlegen, wie technische Empfehlungen zur Behandlung dieser Abfälle abfassen? Es ist vielleicht ein wenig zu kurz gegriffen, wenn man sich damit begnügt, mit: »auf Chinesisch« zu antworten, wie ich es letztens bei einer internen Sitzung mit einem Augenzwinkern vorgeschlagen habe. Keine Organisationsform der Menschheit ist auf eine solche Zeitspanne hin angelegt. Selbst den Vatikan, eine der am längsten bestehenden, gibt es erst seit dem vierten Jahrhundert. Andererseits heißt in der Welt der neuen Technologien sechs Monate bereits Ende der Vorstellung, so viele Dinge können in diesem sich derart schnell entwickelnden Bereich in nur sechs Monaten passieren. Als ich einmal mit verantwortlichen IT-Experten großer Industriefirmen in Sachen Cybersicherheit zusammenarbeitete, hatten diese größte Schwierigkeiten, sich einen Zeithorizont bis zum Jahr 2020 vorzustellen. Es gab heftigen Protest, es sei völlig unmöglich, sich in eine derart trügerische Zukunft zu versetzen (vier Jahre bedeuteten für sie Jahrhunderte).
Seit einigen Jahren arbeite ich über Quantencomputer, eine Technologie, die eine rasante Entwicklung erlebt und über die man viel Widersprüchliches hört. Auf der einen Seite gibt es Leute, die glauben, es handele sich um einen neuen Godot, der niemals kommen würde. Und auf der anderen Seite gibt es Wissenschaftler, die der festen Überzeugung sind, dass das schon morgen der Fall sein würde, dass ein solcher Quantencomputer in weniger als zehn Jahren zum Einsatz kommen könnte. In kürzester Zeit könnte uns also die Entwicklung des Quantencomputers in ungeahnte Dimensionen katapultieren, ausgestattet mit einer Rechenleistung, die sämtliche vermeintlich als sicher geltende Codes knacken und die Grundprinzipien der Sicherheit der Informationstechnologie auf den Kopf stellen kann. Nach einer ersten Sachverständigentagung im Berlaymont-Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel haben wir die Entscheidung gefällt, uns ernsthafter mit dieser Frage zu befassen. Ein sehr detaillierter, sechzehn Abschnitte umfassender Fragebogen (Software, Finanzierung, Stärken und Schwächen Europas, technische Anwendungen et cetera) wurde in der Folge an zweihundert Experten weltweit verschickt. Real-time Delphi, die Echtzeit-Delphi-Methode, ist eine Variante der konventionellen Delphi-Methode, ein Befragungsverfahren, das über eine freigeschaltete Plattform ermöglicht, dass alle an der Befragung beteiligten Fachleute die nach und nach eingehenden Antworten auf ihren Bildschirmen in Echtzeit einsehen und jeweils ihre eigenen Einschätzungen gegebenenfalls korrigieren können. Die erste Phase der Befragung war jetzt abgeschlossen und das Sichten der Ergebnisse im Gange, wir waren dabei, sie für unseren Schlussbericht zusammenzufassen.
Aber die Frage, der in letzter Zeit meine ganze Aufmerksamkeit galt, war die Blockchain. Die Blockchain ist in der Vorstellung der meisten Leute verbunden mit dem Bitcoin. Aber worum geht es wirklich? Die Blockchain ist eine Speichertechnologie, Äquivalent eines Buchführungsjournals – ein immenses anonymes und manipulationssicheres Register –, das die Historie sämtlicher zwischen den Nutzern jemals durchgeführter Transaktionen dokumentiert. Die Arbeit, einen neuen, gültigen Block zu erstellen, die darin besteht, als Erster eine komplexe mathematische Gleichung zu lösen, nennt man Mining, das Schürfen. Der Schwerpunkt in der Anwendung dieser Technologie und der bei weitem bekannteste sind bislang Zahlungssysteme, wie die in den vergangenen Jahren schnell wachsenden Kryptowährungen, weil diese Systeme absolutes Vertrauen schaffen und den Wert der jeweiligen Währung garantieren. Als der Bitcoin 2008 die Weltbühne betrat, geschah dies nicht auf spektakuläre Weise, sondern im Gegenteil bemerkenswert diskret. Die Identität seines Erfinders Satoshi Nakamato ist noch immer mysteriös. Der Name Satoshi Nakamato ist sicher ein Pseudonym, hinter dem sich eine oder mehrere Personen verbergen, möglicherweise sogar eine ganze Gruppe unsichtbarer Manipulatoren, seine wahre Identität bleibt weiterhin ein Rätsel. Aber außer für den Bitcoin kann die Blockchain eben auch in vielen anderen Geschäftsfeldern