Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer. Markus Maeder
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Von so hoch oben kommt mir alles ziemlich unwirklich vor, wie damals in den ersten Fahrstunden, mit zwanzig, als mir die Fahrzeuge mit ihrem Gewicht und ihrer Energie, die Scheiben und die Spiegel bloß virtuell vorhanden zu sein schienen. Ich hätte sie wie in den einfachen Computerspielen, die in den Spielsalons damals die Jumbo-Flipperkasten abzulösen begannen, ohne mit der Wimper zu zucken, rammen und umstoßen können, und wenn ich mein virtuelles Leben verwirkt hätte, für eine Scheidemünze von Neuem beginnen. Bloß vor den Lastwagen hatte ich damals etwas mehr Respekt. Jetzt, an Markus’ Seite, ändert sich die Perspektive, aus der Position der Stärke heraus haben die kleinen Fahrzeuge etwas Bedeutungsloses, Seelenloses, Vernachlässigbares an sich. So etwa könnten in vergangenen Zeiten die Ritter hoch zu Ross das gemeine Fußvolk eingeschätzt haben. Eine Dosis Sporen, und die Meute stob auseinander.
Drei Ampeln und eine Baustelle später habe ich mich ans Privileg der großen Übersicht gewöhnt. Der Rest ist Rollen. Leer, wie wir sind, rollen wir vorbei an gelangweilten Beamten durch den Personenwagenzoll in Chiasso, Richtung Italien, während sich die Beladenen von Norden wie von Süden her in kilometerlangen Kolonnen mühselig Richtung Schranke quälen.
Wir rollen durch die letzten Tunnels der Alpenverwerfungen und hinunter in die Poebene, wo sich der dichte Verkehr von der Schweiz her in die Breite der Autobahnen um Mailand ergießt. Von unserem Hochsitz aus kommt es mir vor, als ständen wir still und rollte die Erde unter uns weg. Links und rechts und vorne und hinten wimmeln die kleinen, lebendigeren Blechgeschöpfe um unsere Behäbigkeit herum, als wären wir ein Elefant. Schon bei leichtester Steigung scheinen wir noch größer, noch behäbiger zu werden: ein Mammut.
Von hinten und schräg oben betrachtet, wirken Personenwagen wie ein Schwarm von Insekten, die sich nach unergründlichen, immer wieder überraschenden Mustern bewegen. Jederzeit kann eines zu einem tödlichen Angriff ansetzen. Trucks folgen leichter erkennbaren Gesetzen. Rechte Spur, Einerkolonne, 89 km/h. Wenn einer nicht mithalten kann, setzen die schnelleren zum Elefantenrennen an. Es lebe die Steigung. Sie selektioniert. Asphaltfresser. Kilometermillionäre. Noch mal vier Jahre, und auch Markus wird zu ihnen gehören.
Natürlich ist die Fahrt ein Genuss. Der Thron mit allen Schikanen der Ergonomie, die göttliche Übersicht über das Gewimmel, ein Hochsitz, man fühlt sich als Jäger mit Lizenz, Radler, Fußgänger und anderes Niedrigwild straflos abschießen zu dürfen. Das alles führt zu einer Art Trance, die sich unter den wohligen Vibrationen des Motors in Gebiete des Körpers verteilt, die mit anderen Mitteln kaum zu erreichen sind.
Wir rollen weder schnell noch langsam, sondern am äußersten Limit. Achtzig ist gesetzlich erlaubt, doch kaum ein Trucker, der seinen rechten Fuß nicht schwer auf das Pedal abstützt und damit genau die 89 km/h erreicht, auf die jeder Vierzigtönner amtlich geeicht ist. So bummeln und brummeln die Elefanten unablässig in Einerkolonne hintereinander her, kreuz und quer durch Europa, und wenn einer doch etwas mehr mag, ein anderer auf 87 oder 88 blockiert ist, kommen die schier endlos scheinenden Elefantenrennen ins Rollen.
Das Gefühl, dem anderen überlegen zu sein, ist mit vierzig Tonnen Gold nicht aufzuwiegen.
Hobby und Beruf
Markus und ich können stundenlang fahren und schweigen. Im Herzklopftempo scheppert von der Stereo-Bordanlage so etwas wie
All we hear is Radio Gaga Radio Googoo Radio Gaga All we hear is Radio Gaga Radio Blahblah
Von Chiasso bis weit um Mailand herum zieht sich links und rechts der Autobahn die Agglomeration bis hin zum Horizont. »Nichts Schönes, wirklich nichts Schönes«, sagt Markus, und ich sage, um etwas zu sagen, in ein paar Jahren könnte die Poebene eine von Autobahnen durchzogene Betonfläche wie etwa der Großraum von Los Angeles werden.
Die vier Rückspiegel rechts vervierfachen die Hässlichkeit in grotesker Verzerrung – und behalten in Selbstbespiegelung das eigene Blechkleid aus allen möglichen Winkeln im Blick. Es gibt den Seitenspiegel, den Weitwinkelspiegel und den Rampenspiegel, der die Sicht von oben aufs Rad der Vorderachse erlaubt. Darin kann ich die Fahrspur verfolgen und staune, wie passgenau Markus Kilometer um Kilometer dem Randstrich entlangfahren kann.
Der Totwinkelspiegel unten rechts von der Frontscheibe zeigt Fahrräder und Fußgänger, die sich hinter dem Blech der Tür und den fünf Einstiegsstufen verbergen. Niedrigwild, das sich nahe an der Front aufhält oder nahe seitlich der Kabine parallel mitfährt, lebt gefährlich. Auch das ein Grund, warum einen in der Kabine immer ein bisschen die Angst begleitet. Um Kinder zu sehen, die hinter dem Auflieger spielen, schaltet mit dem Rückwärtsgang automatisch eine Kamera ein. Es wäre zu schlimm, sich aus Unachtsamkeit schuldig zu machen. Doch sieht die Kamera auch unter die Karosserie? Markus sagt, nein.
Drei Raststätten früher hat das Navigationsgerät Stau um Mailand angezeigt. Nun ist die Meldung weg. Auf einen Stau auflaufen gilt für Markus wie für jeden Fernfahrer als persönliche Schlappe. Mit etwas Voraussicht lässt sich das vermeiden, davon ist Markus überzeugt. Es sei denn, die Ausweichstraßen seien für den Schwerverkehr gesperrt. Aber bis jetzt läuft alles rund. Mit etwas Glück können wir heute tatsächlich noch laden in Genua, denn eben ruft Michi von Transfood aus Frauenfeld an. Michi ist der Disponent einer Flotte von über einem Dutzend Fernfahrern und meldet, dass wir die Tanks nicht zu reinigen brauchen. Die Zeitersparnis verlängert den Tag um zwei bis drei Stunden.
Wir rollen und rollen, bummeln und brummeln in gebührendem Abstand hinter Walos Heck her. Nach Mailand wird die Agglo allmählich zur Landschaft. Reis und Raps folgen sich in rechtwinkligen Flächen, die sich in der Perspektive zu Trapezen verziehen, darüber Hochspannungsleitungen unter einem schweflig diesigen Himmel. Area Servizio, Total Servizio. Gelati Motta. An den Wiesenböschungen blüht der Klatschmohn fast im gleichen Rot wie unser Blechkleid.
Später, in den zerklüfteten Hügeln, welche die Poebene von Genua trennen, heulen drei Polizeiautos mit Vollgas und Blaulicht an uns vorbei. Markus scheint eine Rechnung offen zu haben, sei es mit der Polizei, sei es mit Italien überhaupt. Er sagt: »Wahrscheinlich fahren sie zum Mittagessen.« In den Serpentinen, hinunter Richtung Genua holen wir sie wieder ein. Sie haben bei einem Brückenkopf geparkt, beugen sich über das Geländer und schauen, immer noch bei Blaulicht, unverwandt hinunter in eine endlos tiefe Schlucht. Die Fantasie serviert mir andere Geschichten als die vom Mittagessen.
Um mich für den Panoramablick auf Genua etwas zurückzulehnen, heble ich an der Mechanik des Sitzes. Unser Mercedes ist wie ein Hightech-Gerät bis zum Rand mit Elektronik gefüllt. Unversehens macht die Heizung Feuer unter dem Arsch, mitten in diesem schwülwarmen Tag.
»Du hast den falschen Knopf erwischt«, sagt Markus.
»Ja klar, aber welcher ist der richtige? Es gibt so viele Knöpfe, so viel zu lernen.«
Markus lacht durch die Frontscheibe in einen imaginären Fluchtpunkt: »Das ging mir genauso, das hält einen frisch. Als ich auf den Sattelschlepper umstieg, das ist jetzt vier Jahre her, hatte ich zuvor einen Crash-Kurs in Fernverkehr zu bestehen. Erst fuhr ich jede zweite Woche. Seit bald zwei Jahren, nachdem mein Kumpel ausgestiegen ist, Woche für Woche. Fünfzig Wochen im Jahr. Ich lernte von Kollegen und von den eigenen Fehlern. Unterdessen kann ich eine halbe Million Kilometer Erfahrungen weitergeben.«
Ich rechne kurz: »Bei einem Erdumfang von vierzigtausend Kilometern wärst du ein gutes Dutzend Mal rund um die Erde gefahren.«
Markus sagt nach einer Weile: »89 km/h sind keine Geschwindigkeit, aber in vier Jahren kommt man damit doch ziemlich weit.«
Später