Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer. Markus Maeder
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Die Befreiung aus dem Blechkorsett des Staus motiviert uns, Beethovens Sechste in den CD-Schlitz zu schieben. David Zinmans Zürcher Tonhalle-Orchester klingt so frisch und scharf wie das Aftershave heute Morgen. So feiern wir die heiteren Gefühle bei der Ankunft in Tortona und das lustige Zusammensein der Landleute auf den Reisfeldern beidseits der Pannenstreifen. Auf der Hülle ist Beethoven zitiert: Die Szene am Bach haben die Goldammern da oben, die Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke ringsum mitkomponiert. Gerade als nach Gewitter und Stau der Hirtengesang beginnt, ruft der Werkstattchef von Mercedes in Schlieren an. Nun sei klar, warum beim manuellen Schalten der Gang manchmal rausfalle. Es hapere bloß an einem elektronischen Teil, nicht größer als eine Zigarrenschachtel, sehr teuer, aber schnell montiert. Er habe sich im Werk in Deutschland erkundigt. Markus solle vorbeikommen, wenn er mal in der Nähe sei.
Markus hängt ein und schüttelt den Kopf: »Nach über vier Jahren! Wieso haben die sich nicht schon früher schlaugemacht? Wie oft haben wir deswegen Tempo verloren und Diesel verschwendet, um wieder auf Touren zu kommen. Vor allem auf langen Steigungen irgendwo in den Ardennen oder den Pyrenäen.« Oft ist Markus deswegen in der Werkstatt gewesen, wo aufs Geratewohl und erfolglos dieses und jenes ersetzt wurde. Ein Telefon nach Wörth hätte ihm viel Ärger erspart. Der Servicevertrag verpflichtet Mercedes zur Übernahme sämtlicher Kosten.
Ich gebe mich den frohen und dankbaren Gefühlen nach dem Sturm und Stau hin. Markus kommt noch nicht von Rotlichtern und »der Zigarrenschachtel« los: »Die Lässigkeit ist es, die mangelnde Neugier, die einen angurkt«, sagt er, »nur Bosheit gurkt einen noch mehr an.« Er hat ja recht. Vollkommen recht. Ein Polizist pro Rotlicht würde reichen. Die vierhundertsechzig Pferde in der Raubkatze des Elefanten schnurren wieder wie eh und je, als ginge sie das alles nichts an. Sie laufen ihre neunundachtzig, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht haben Motoren doch keine Seele.
Markus sagt: »Ich möchte einfach noch über diese Grenze heute Abend. Das Puff morgen früh in Chiasso will ich mir partout nicht antun. Schon lange vor sechs Uhr stehen sie kreuz und quer.«
Wie Walo wohl das Puff vermeiden will? Warum hat er die Q8-Tankstelle gleich am Hafenausgang ausgelassen? Nun wird ihm die Zeit fehlen, die er dort eingespart hätte. Er hat Stress, weil er auf der Autobahn eine Möglichkeit finden muss. Wenn er Pech hat, geht ihm der Diesel aus, oder er muss einen Zwischenhalt einschalten, um woanders etwas Reserve zu tanken. Auch Walo weiß doch, dass Unterlassungen sich rächen können.
So ist das eben, und es beginnt schon morgens früh. Markus hat das mit der ersten Tankfüllung als Sattelschlepperfahrer gelernt. Man rasiert sich etwas zu lang, der Kaffee kommt zu heiß aus dem Automaten: Fünf dumme Minuten verplempert, und man steht eine halbe Stunde vor einem Autobahnkreuz. Der Frühverkehr kann innert Augenblicken von praktisch null auf Maximalstärke anschwellen. Lieber kommt man zehn Minuten zu früh und muss dann warten, bis die Schranke oder das Fabriktor aufgeht, als dass man sich wartend hinter zwei oder drei Klügere, Diszipliniertere einreihen muss.
Über der Poebene schwebt eine Akazienduftwolke, süß wie Honig, intensiver als Diesel und reiner als der Schweinetransporter, der uns auf dem Weg in den Schlachthof bei einem Elefantenrennen vernaschte. Wären wir nicht zur Blütezeit unterwegs, es wäre mir nie aufgefallen, wie viele Akazien in Italien wachsen, aber jetzt, da ich es schreibe, tippe ich eher auf Robinien, die ähnlich blühen, mindestens so stark duften und sich gerne an Straßenrändern, Bahndämmen und trockenen Wäldern ausbreiten, aber nicht über einen so verklärten Namen verfügen. Wer kauft schon Robinienhonig, und wer weiß, ob er auch wirklich Akazienhonig bekommt, wenn Akazienhonig draufsteht. So drehen sich die Gedanken mit den Rädern.
Warum hält Markus diesem Bock so unverbrüchlich die Treue?
Alles in allem dürfte es ihm kaum an etwas fehlen. Nötig hat er die Fahrerei kaum, nach zehntausend Operationen am offenen Herzen – Bypässe, Geburtsfehler, Klappenfehler – Stück für Stück, zwei bis drei jeden Tag, vorwiegend an bestens versicherten privaten Patienten, gut und gern zwanzig Jahre lang, und das in den goldenen Börsenjahren der letzten Jahrzehnte, als die günstigen Winde der Wirtschaft auch kleineren Vermögen tüchtig unter die Flügel griffen. Nein, nötig kannst du es nicht haben, denke ich, aber ich frage nichts, und er sagt nichts. Ein Steckenpferd gönnt er sich, könnte man sagen, wenn er in seinem Sattel säße, als Herrenreiter, und nicht als Kutscher fremder Herren auf dem Bock eines fünfachsigen Vierzigtönner-Sattelschleppers Autobahnen polierte.
Walo hat unterdessen schlappgemacht. »Ich gebe auf«, hat er übers Handy kurz vor Mailand gesagt, etwas frustriert, aber wohlgemut. Bis er endlich getankt hatte, wies ihn die Scheibe in die Schranken. »No trespassing«. Gesetzlich mögliches Tagessoll erfüllt. Er parkt beim nächsten Autogrill und steht an der Kaffeebar, während wir nun schon bald zwölf Stunden in Italien sind und noch nicht mal einen Espresso gerochen, geschweige denn getrunken haben, nur diesen Automatenkaffee auf Sonnenblumenölbasis. Also denn, Walo, genieß es, bis morgen in Lugano. Espresso hin oder her, für heute gilt: The winner is … Markus Studer, Internationale Transporte.
Walo wird morgen früh vor fünf Uhr aufstehen, um Markus wieder einzuholen, doch selbst wenn er das schafft, wird Markus schon wieder eins weiter sein mit seinen Gedanken. Er sagt, er fahre strategisch: »Beim Operieren muss man immer zwei, drei Schritte vorausdenken. Alle möglichen Situationen antizipieren und für jede Möglichkeit verschiedene Szenarien entwickeln. Das ist auch das Geheimnis am Lenkrad. Voraussicht ist die beste Vorsicht.«
Das ist wohl eine Tugend, der einige seiner Herzpatienten ihr Leben verdanken. Und die uns jetzt gebührenden Vorsprung eingebracht hat. »Wir ziehen es durch«, sagt Markus, »Scheibe hin oder her. Weit ist es nicht mehr bis Lugano, und auf einem Autobahnparkplatz übernachten, das geht mir gegen den Strich.« Nein. So was tut Markus nicht. Stilfrage. Noch eine halbe Stunde einer Doppelkette von Rücklichtern hinterherfahren, rund um Mailand, in die Abenddämmerung hineinfahren, das Lucky-Luke-Gefühl mit einem Waldluftstängel intensivieren – et voilà. Chiasso by night. Es riecht nach Pisse, irgendwo in der Nähe schlägt laut Metall auf Metall. Kaum sonst irgendwo wirkt die Schweiz so gespenstisch international wie an den bald letzten Zollübergängen innerhalb Europas. Die düsteren Asphaltwüsten, die uniformierten Gestalten, die im Flutlicht ihre Schatten werfen und ihre Pistolen vom Gurt baumeln lassen, so selbstverständlich, als wäre das ihr Gehänge, aus dem sie pinkeln. Der Ort wirkt so unwirklich und doch so bedrohlich, fast als wäre unsere Frontscheibe eine Cinemascope-Leinwand für einen Agentenfilm aus dem Kalten Krieg. Wie wir über die Grenze gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Es ist weggefallen aus dem Gedächtnis, wie die Film-Enden beidseits eines Schnitts. Als Nächstes sind wir wieder dort, wo wir heute Morgen, vierhundertfünfzig Kilometer früher, begonnen haben. Beladen mit Sonnenblumenöl roh in Lugano-Manno.
Der Traum vom großen Geschirr
Markus stellt den Motor ab. Die Sitze sacken hydraulisch zusammen. Es ist, als hätte man uns die Luft rausgelassen. Endlich Ruhe. Endlich schlappmachen dürfen. Rund um uns herum Asphalt und Beton, der gleiche wie gestern Abend, kein Strauch, kein Baum, und die Grillen sind auch wieder da, ganz in der Nähe. Nur zwei oder drei, gerade genug, um uns die Sinne zu öffnen für die Werte jenseits des Pannenstreifens. Markus knipst die Vierundzwanzig-Volt-Lämpchen in der Kabine an. Sie werfen ein fahles Licht auf die graue Plastik-Innenverschalung. Immerhin, wir sitzen nicht im Dunkeln, und