Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer. Markus Maeder

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Vom Herzchirurgen zum Fernfahrer - Markus Maeder

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entwischt Walos Inquisition, weil ihn der Disponent der Abfüllanlagen mit seinem Wagen zur Laderampe aufbietet. Er klettert wie eine Katze nach Beute die Tritte zum Lenkrad hoch, parkt zentimetergenau und flanscht dann auf dem Dach des Tanks die Schläuche zusammen. Im Grau des verrußten Betons, des verwitterten Aluminiums und der Verruchtheit eines aus den Fugen fallenden Hafens scheint er sich zu Hause zu fühlen. Wenn er die Ärmel hochkrempelt, packt er seine Arme wie zwei Geschenke aus. Anpacken, da kann er der Welt etwas mit auf den Weg geben. An den Schlüsselstellen der handfesten Wirtschaft, dort, wo die Waren umgeschlagen werden und einzig menschliche Hände die entscheidenden Griffe zu leisten vermögen, zeigt sich Markus als der Mann, der die Pflichten eines Chauffeurs zu seiner Kür gewählt hat. Im Überkleid tanzt er förmlich die Leiter hoch, zu den Einfüllstutzen, die Leiter runter und hin und her von Schalter zu Schalter. Eine Performance in proletarischem Realismus, fast wie auf den Propagandaplakaten aus den roten Zeiten Moskaus und Pekings.

      Um halb fünf hat auch Walo geladen. Wie zwei Rennwagen bereit zum Start, stehen unsere Autos nebeneinander am Ausgangstor. Doch wo bleibt Walo? Schließlich kommt er ziemlich geknickt durch die weiße Staubwolke über den weiten Platz, auf dem noch immer der Bagger piepst. »Finish«, sagt Walo. »Finish« habe der Mann im Kabäuschen gesagt. Keine Papiere mehr.

      »Das vertrage ich schlecht«, sagt Markus, wenn man mich stehen lässt. An der Grenze, an einem Binnenzoll oder irgendwo an einem Fabriktor, bloß für einen Stempel. Ich reiß mir den Arsch auf, hole, bringe und muss mir dann an der Rampe sagen lassen: ›Ach, tut uns leid, heute können wir nicht abladen, unser Tank ist noch voll.‹ Das hebt mir den Deckel.«

      Fahrer sein heißt stehen bleiben – und randständig werden. Hat Walo nicht genau das gesagt heute Nachmittag? Markus hat es da gelegentlich etwas besser. Er mobilisiert die natürliche Autorität eines Chirurgenteamleiters.

      »Kannst du Italienisch?«, hatte ihn Michi, der Disponent von Transfood, schon am Morgen am Telefon gefragt.

      »Genügend, um jedem Italiener Schimpf und Schande zu sagen«, hatte Markus versichert. Von seinen italienischen Privatpatienten beherrscht er aber auch die feineren Töne.

      »Italien, das halte ich im Kopf nicht aus«, klagt Walo – und ist doch eine Frohnatur von Geburt.

      Noch einmal warten, und siehe da, Markus in Überhosen und im Triumphmarsch zurück aus der Papierschlacht. Nun klappts. Einfach anständig bleiben, solange es geht. Ein Wort von Markus, und Walo hat die nötigen Stempel auf den Papieren. Ob unsere Tanks gereinigt sind, hat keinen der Beamten gekümmert. Nichts mehr »finish«. Kurz vor fünf. Er gehe noch tanken und warte in Tarragona, sagt Walo. »Tortona«, lacht Markus.

      Torturen vor Tortona

      Genua, addio. Walo fährt voraus – und schüttelt uns gleich nach der Hafenausfahrt ab. Wir wundern uns. Wie hingezaubert, steht eine Q8-Tankstelle gleich außerhalb der Hafenanlage. Warum hat Walo nicht hier haltgemacht, wo die gesuchte Diesel-Zapfsäule förmlich auf ihn zu warten scheint. Warum will er weiter nach Tortona? Er wird sich in den Ruhevorschriften verstricken und hängen bleiben. Markus sagt: »Verschiebe die Dinge nur mit triftigen Gründen. Natürlich kommt immer wieder eine Tankstelle. Aber weißt du, wann das ist?« Doch Walo setzt seine Prioritäten anders. Er liebt den Nervenkitzel: Reicht es bis zur nächsten Tankstelle? Schafft er es doch noch über den Zoll? Wenn ja, feiert er einen Sieg. Wenn nicht, freut er sich, was Meister Zufall ihm beschert.

      Leer oder voll, das ist wie der Unterschied zwischen einem scharfen Messer und einem stumpfen Messer. Wie Tanzen und Kriechen. Leer sind wir weich wie Butter dem Horizont entgegengefedert. Es ist eher ein Summen als ein Brummen, eher wie das intensive, geschäftige Treiben der Bienen im Mai. Voll beladen, schlägt das Gewicht hart auf die Achsen, der Motor singt nicht, er knurrt und keucht die Hügel hinauf. Die Leeren schweben mit ihren 89 km/h links an uns vorbei, dafür haben wir mehr Zeit, uns der Betrachtung der toxischen Wäsche zu widmen. Nun kriegt sie auch von uns ihr schwarzes Teil ab.

      Wenn Sattelschlepper Elefanten wären, könnten sie brummen und schnurren wie Raubkatzen, und wenn sie Raubkatzen wären, fragt es sich, warum sie Pferdestärken haben. Metaphern haben immer etwas Schiefes an sich, aber so langsam unterwegs auf die nächste Hügelkuppe, schleppen sich manchmal merkwürdige Gedanken ebenso träge dahin. Als Michi anruft, haben wir die Steigung hinter uns, den Abend vor uns. Es gibt eine kurze, effiziente Durchsage zum Notwendigen, wie einst am Ops-Tisch: »Salut Michi. Wir sind zurück Richtung Mailand. Werden noch heute verzollen. Tschüss Michi.«

      Überraschungen vorbehalten. Kaum liegt die Poebene vor uns, verspricht eine Anzeigetafel quer über die Autostrada »2 km di coda«. »Coda« ist Stau. Nanu, wenns nichts Schlimmeres ist, kommen wir heute glimpflich davon. Von Stau weit und breit keine Anzeichen. Vorläufig. Auch das Navigerät zeigt nichts an. Ach, das ist doch vorbei. Diese Italiener. Die haben doch einfach die Tafel auszuschalten vergessen – bis wir doch auf eine stehende Kolonne auffahren. Mindestens drei Glimmstängel Waldluft lang. Stehen. Stehen. Stehen. Dann folgt eine Umleitung mitten durch die Reisfelder und Rapsfelder, die auf der Hinfahrt wie Kulisse ausgesehen haben. Die Landwirtschaft macht sich so breit, dass die Straße gerade noch knapp Raum für zwei Fahrzeuge lässt. Markus schaut auf die Uhr, aber gibt sich gelassen. Im nächsten Dorf winkt er einen Fußgänger über den Zebrastreifen. Es ist ein älterer Herr, der uns zuwinkt und sich höflich mit »Buona serata« bedankt. »Für einen Fußgänger warten, das tut hier sonst keiner«, sagt Markus. Warum sollten wir nicht. Es geht sowieso nicht voran. Markus ist in Gedanken versunken: »Lebensmittel sind gut«, sagt er halb zu sich, halb zu mir. »Sie sind nie giftig. Für Gefahrengüter sind manche Straßen gesperrt. Mit Gefahrengütern würden wir jetzt vollends stecken bleiben.«

      Wir schauen der Sonne beim Sinken und Rotwerden zu. Zurzeit kommen wir auch mit unseren Lebensmitteln nicht mehr weiter. Ich spüre, allmählich beginnt es sanft zu brodeln in Markus’ Brust. »In Holland ist das besser«, sagt er, »bei jeder Unfallmeldung rücken Sanität, Polizei und Abschleppdienst unverzüglich im Dreierpaket aus. Wahrscheinlich neun- von zehnmal umsonst. Dafür steckst du kaum je in einer »coda«. In Deutschland gehören zehn und zwanzig Kilometer Stau zum Alltag eines Chauffeurs. Und hier?« Er presst die Lippen zusammen. Wir werden sehen. Das GPS zeigt uns, wo wir stehen. Vierzehn Kilometer vor der nächsten Einfahrt in die Autostrada. Der Name, der bisher bloß eine Folge von Buchstaben war und wie Tarragona klingt, bekommt unversehens Bedeutung. Tortona. Stehen, rollen, stehen, rollen im Schritttempo. Dafür können wir nach dem Flieder in den Vorgärten greifen.

      Markus findet es zum Kotzen. Ob wir das Auto abstellen? Aber was du gefahren bist, bist du gefahren. Auf einem Ferienfährtchen kommt es auf ein paar Stunden nicht an. Da kannst du fahren, so lange du willst. Wir aber bleiben stehen, abends um zehn. Zack, ein Entscheid. Markus stellt den Motor ab. Schluss mit der Arschvibrationsmassage. Göttliche Ruhe. Bis zu den nächsten Metern durchs nächste Rapsfeld. Und ständig liegt eine andere Frage in der Luft: Wie lange wohl Walo der Diesel noch reicht? Das Navigerät schickt uns links auf eine Abkürzung. Höhe bis zwei Meter sechzig. Da kommt kein Vierzigtönner durch. Wir haben drei Meter siebenundachtzig.

      Fast eine Stunde später stehen wir vor einem Rotlicht, das die Kreuzung mit einem unbefahrenen Schottersträßchen regelt. Es schaltet in kurzen, gleichmäßigen Abständen von Rot auf Grün und von Grün auf Rot. Markus entlädt seine Spannung mit einem Schlag auf den Mercedes-Stern auf dem Lenkrad: »Ein Polizist würde reichen. Ein einziger Polizist, der dieses dumme Rotlicht ausschaltet – und wir wären demnächst in Chiasso.« Aber es ist nicht nur dieser eine fehlende Polizist. Noch ein Lichtsignal und noch eins und noch eins. Markus sagt: »Gopferteckel, jetzt reichts. Wenn wir jetzt noch in die Ruhepausenvorschrift reinlaufen, hats uns erwischt.«

      Dann ruft Walo an, grinsend: »Arschloch klingt so wunderschön

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