Heimische Exoten. Mareike Milde

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Heimische Exoten - Mareike Milde marix Sachbuch

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      Bislang führte jedes Land seine eigenen Listen gebietsfremder Tierarten; im Zuge der EU-Formierung wurde eine übergreifende Liste mit unerwünschten Tierarten erstellt. Die erste dieser Art wurde 2016 herausgebracht und umfasst 37 Pflanzen- und Tierarten. Solch eine Liste zu erheben, sie dauerhaft zu analysieren und immer auf dem neuesten Stand zu halten, ist in der heutigen Welt mit der unglaublichen Vielzahl an Tierimporten und -exporten unmöglich. Zu Beginn der Buchrecherche lebten schätzungsweise 1000 Archäobiotika und Neobiota allein in Deutschland, wovon ca. 230 Arten den Status als Neozoen haben. Die Dunkelziffer, vor allen Dingen in der Insekten- und Einzellerwelt, wird um ein Vielfaches höher geschätzt. Wenn dieses Buch auf den Markt kommt, wird sich die Schätzzahl mit Sicherheit weiter verändert haben. Diese Listen geben einen Anhaltspunkt, gelten aber als unbeständig.

      Mitunter kommt es vor, dass eine Tierart auf der Liste landet, die lediglich in einem einzigen EU-Land lebt und als unerwünscht gilt, wie zum Beispiel der Chinesische Muntjak in Großbritannien. Sie merken schon: Was passiert mit dem Chinesischen Muntjak, wenn Großbritannien aus der EU ausgetreten ist (abgesehen vom dem, was mit dem Land passiert)? Verschwindet er von der Liste, weil sein Wildvorkommen in der restlichen EU überhaupt nicht existent ist? Oder bleibt er für den Fall als Platzhalter, wenn er doch einmal bei uns auftauchen sollte? Vielleicht taucht er aber auf und bedrängt andere Tierarten hier gar nicht. Mitunter passieren Missgeschicke, weil es einfach ein Sisyphusunterfangen ist, all diese Tierarten zu erfassen, zu klassifizieren und geeignete Managementprogramme dafür zu entwickeln.

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      Ausgebüxt und eingestiegen:

      Die unverfrorenen Waschbären aus Kassel

      Kassel, meine Heimat. Hier komme ich her, hier bin ich aufgewachsen. Dass es nicht zum üblichen Prozedere eines Eigenheimbaus gehört, vor dem Einzug eine Fachfirma mit der Aufrüstung gegen tierische Eindringlinge zu beauftragen, lernte ich erst mit meinem Umzug nach Hamburg. (Wobei es in der Hansestadt ohnehin eher unüblich ist, eigene Häuser zu bauen, aber das ist eine andere Geschichte.)

      In dieser Geschichte geht es um die Waschbären, die seit Jahrzehnten zum Kasseler Stadtbild gehören. Überlegungen, die possierlichen Raubtiere in das Stadtwappen zu integrieren, gibt es. Auch befassen sich immer wieder Künstler – nicht nur zur fünfjährigen Weltkunstausstellung documenta – mit den cleveren Bärchen.

      Mit einer enormen Bevölkerungsdichte von 60 bis 140 Tieren pro Quadratkilometer ist Kassel die unangefochtene Waschbärenhauptstadt Europas. Doch nicht alle Kasseler freuen sich über diesen Superlativ, zumindest nicht die aus Wilhelmshöhe, dem Vorderen Westen, Kirchditmold und Harleshausen, denn hier sind die kleinen Racker am stärksten vertreten: auf den baumstarken Grundstücken, gesäumt von breiten Straßenzügen rund um die Hessenschanze oder im verwunschenen Bergpark Wilhelmshöhe mit dem stattlichen Herkules, der märchenhaften Löwenburg und den unzähligen Schlupfwinkeln. Hier, wo weite Waldflächen mit ihren malerischen Wasserläufen nahtlos an die Stadt anschließen und an schönen Tagen viele Ausflugsfreudige anziehen, die nach ihrem Aufenthalt die Mülleimer prallvoll mit Köstlichkeiten hinterlassen.

      Mehr als zwei Drittel der Kasseler Waschbären leben dauerhaft in der Stadt, davon ca. 45 Prozent in Häusern und Gebäuden, bevorzugt auf Dachböden, in Zwischendächern, unter Giebeln und in erkalteten Schornsteinen.

      Und sollte es sich nicht um Waschbärenmütter handeln, die in der zweimonatigen Aufzuchtzeit mit ihren 20 bis 30 Jungen des Nachts lautstark fangen spielen, bekommen das die menschlichen Hausbewohner oft erst mit, wenn das Pipi schon durch die Decke tropft. Und das ist schlecht, denn: Leiden die Tiere an dem bei den Kasseler Waschbären sehr verbreiteten Spulwurm, ist dieser gleich mit eingezogen und eine Komplettsanierung für mehrere Tausend Euro unumgänglich. Dem lästigen Spulwurm widmen wir uns übrigens im nächsten Kapitel.

      Ohnehin ist es dann längst zu spät: Dieser Ort ist bereits gebrandmarkt, als Top-Übernachtungsherberge im Lonely Planet der pelzigen Einwanderer. Sie haben ihn unwiderruflich markiert, Sanierung hin oder her.

      Der Mensch muss davon ausgehen, dass die Waschbären von nun an immer und immer wieder versuchen werden, ihr einmal erobertes Heim neu zu beleben. Die räuberischen Bären haben diebischen Spaß daran, verschlossene Schlupfwinkel und verriegelte Durchgänge erneut zu knacken. Das gelingt zum einen mit Gewalt – ihre Vorderfüßchen sind kräftig und geschickt –, zum anderen verschaffen sie sich mit List und Wagemut Zugang über steile Häuserkanten und rutschige Dächer. Geduldig kratzen sie sich durch verschlossene Mauerwerke, mitunter monatelang, heben Ziegel an, legen diese nach dem Durchschlüpfen fachgerecht auf ihre alte Position zurück, bauen Höhlen im kuscheligen Dämmmaterial und richten sich ihre Toiletten, sogenannte Latrinen, ein. Oft gibt eine spähende Vorhut der ganzen Bande Bescheid, wenn alles hergerichtet ist. Diese folgt in Scharen und kommt meist lautlos über Nacht. Über die Jahre haben sie sich die Mechanismen einmal geknackter Abwehrsysteme gemerkt. Dieses Wissen können sie jederzeit abrufen und bauen unaufhörlich darauf auf. Sie sind hochintelligent und treiben die Waschbär-Abwehrfirmen vor sich her. Diese sind angehalten, immer komplexere Abwehrsysteme zu entwickeln, um die Tiere dem Menschen vom Leib zu halten.

      Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?

      Die Waschbären waren nicht immer da. Eigentlich ist ihre Heimat Nordamerika, wo sie bereits von den nordamerikanischen Ureinwohnern, den Algonkin, als Aroncon (dt.: ›der mit seinen Händen reibt, schrubbt und kratzt‹) verehrt wurden. Es existieren Sagen der Ureinwohner über die Waschbären, deren besondere Augenmaskierung die Algonkin sogar für ihre Gesichtsbemalung übernahmen. Aus dem Namen Aroncon entstand schließlich das englische racoon, welches hierzulande als »Waschbär« übersetzt wurde. Mittlerweile ist weitläufig bekannt, dass das »Waschen« der Beute nichts mit einem Säuberungsvorgang zu tun hat. Die Reinlichkeit ihrer Nahrung ist den Waschbären sogar herzlich egal. Der Vorgang wird lediglich von in Gefangenschaft lebenden Bären ausgeführt, um das Tasten und Erfühlen von Krebsen, Fischen oder Pflanzen in fließenden Gewässern zu imitieren.

      Um 1900 wurden die ersten Waschbären nach Deutschland gebracht. In Zuchtfarmen fristeten sie ein schnödes Dasein, bevor ihr dichter Pelz die Hälse feiner Damen schmücken sollte. Schnell büxten einige der cleveren Wesen aus – zuerst in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, später auch in Berlin. Hier kam es übrigens auch zum bekanntesten Zwischenfall der deutschen Waschbärengeschichte: In einer lauen Sommernacht 2017 alarmierten besorgte Anwohner ob eines ohrenbetäubenden Knalls mit begleitendem Lichtblitz die Feuerwehr. Man fürchtete eine Bombendetonation. Wie sich jedoch herausstellte, handelte es sich um einen zweifachen Kurzschluss des Heizkraftwerks Reuter West der Firma Vattenfall, der durch einen in den mehrfach gesicherten Hochspannungsbereich eingestiegenen Waschbären verursacht worden war, welcher genüsslich an einem 110-Kilovolt-Transformator geknabbert hatte.

      Notiz am Rande: Dem Waschbären geht es gut, der Strommulti rätselt weiterhin, wie der Einbruch gelingen konnte.

      Übrigens ist das Mysterium des spurlosen Einbruchs gar nicht so ungewöhnlich, wie ein anderer Fall beweist: Im Mai 2019 verschaffte sich ein unerschrockenes Pelzbärchen über Nacht Zugang zum Waschbärengehege des Heidelberger Zoos und beschloss fortan, mit seinen gefangenen Kollegen in Eintracht zu leben. Immerhin gibt es dort regelmäßig Essen und für eine so liebenswerte Pflege durch die Betreuer passte sich der Neubewohner sogar in seinem Tages- und Nachtrhythmus an die Zoo-Öffnungszeiten an. Da es aufgrund geltendem EU-Recht dem Zoo untersagt ist, ein invasives Tier in die Freiheit zu entlassen, bleibt »Fred«, wie ihn die Heidelberger nennen, fortan genau dort, wo er jetzt bereits ist: in seinem freiwillig gewählten Exil.

      Zurück zu unserer Geschichte: Die Invasion hatte ihren Ursprung im Jahr 1934. Wilhelm

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