Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution. Laurie Penny
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Vergesst es. Es ist vorbei. Die soziale Revolution, die stockend durch das vergangene Jahrhundert stolperte, die feministische Gegenwehr, die sexuelle Revision, das Zerschlagen alter Normen zu Hautfarbe, Klasse und Geschlecht, diese soziale Revolution muss neu beginnen, diesmal mit uns allen, nicht nur mit den reichen Weißen, die sie am wenigsten brauchten. Deshalb muss es Meuterei sein.
Es muss Meuterei sein. Nur so geht es. Früher war ich nicht so kompromisslos. Ich ging wählen, unterschrieb Petitionen und plädierte für einen Wandel innerhalb des Systems. Ich blieb die ganze Nacht auf, als Obama gewählt wurde; ich jubelte den Liberaldemokraten in London zu. Ich dachte, wenn wir kleine Veränderungen einfordern – eine andere Haltung zur Körperbehaarung, ein leichtes Anheben des Mindestlohns, vielleicht die Schließung einiger Pornoläden und die Zulassung der Homo-Ehe –, dann würde man uns am Ende ein bisschen Freiheit geben, wenn es nicht zu viel Umstände machte.
Das war einmal. Wohlverhalten bringt uns nicht weiter. Die freundliche Bitte um Veränderungen bringt uns nicht weiter. Wir brauchen Meuterei. Eine Klassenmeuterei, eine Geschlechtermeuterei, eine Sexmeuterei, eine Liebesmeuterei. Es muss die Meuterei unserer Zeit sein.
Oft heißt es, wir sollen doch bitte Verständnis haben für die, die traditionell die Macht in unserer Gesellschaft innehaben – Männer, Weiße, Heterosexuelle, die Oberschicht – und die gnädig ein kleines bisschen ihrer Privilegien abgeben, winzige Fetzen, die wir anderen unter uns aufteilen sollen. Man erklärt uns, Gleichheit auf dem Papier, Gleichheit vor Gericht reichten aus, und das in einer Gesellschaft, deren Gesetze seit jeher ungerecht umgesetzt und ungleich durchgesetzt werden. Vor allem sagt man uns, es sei nun wirklich genug. Es könne keine bessere Welt geben als die, in der wir heute leben. Gleichheit, soziale Chancen, persönliche und sexuelle Freiheit seien ein Luxus, den sich die Gesellschaft nicht leisten könne. Aber das stimmt nicht. Freiheit kann nicht nur vor Gericht ausgehandelt werden. Die sexuelle Revolution ist nicht vorbei und erledigt, wie man es uns weismachen will. Der Feminismus ist hier nicht zu Ende. Er beginnt hier.
Vielleicht täusche ich mich ja auch. Vielleicht kann es wirklich nicht besser werden. Vielleicht war 1989 wirklich das Ende der Geschichte,16 und wir müssen uns mit dem Stand der Dinge abfinden. Vielleicht geben wir uns zufrieden damit, dass so viele Mädchen mit Angst und Missbrauch aufwachsen, dass so viele Frauen gezwungen sind, sich zu ritzen und sich zu zügeln, schön und still zu sein, bis die Männer keine Verwendung mehr für sie haben, dass sich so viele Männer und Jungs eine Kiste aus Gewalt und Trägheit bauen, in die sie ihren Schmerz und ihre Wut einsperren und deren Tür sie leise von innen verschließen. Vielleicht haben wir etwas in uns, dem es so lieber ist.
Folgendes schlage ich vor: Ich werde euch nicht sagen, wie ihr eine bessere Version derer sein könnt, die ihr schon seid. Ich werde euch nicht noch ein Regelwerk vorsetzen, das euch beibringt, euch zu benehmen, immer schön nachzugeben und das bravste Mädchen der Welt zu werden. Und ich schwöre euch, ich verspreche hoch und heilig, ich sage euch nicht, ob ihr euch das Schamhaar wegrasieren sollt, und ich beurteile euch nicht nach dem Zustand eurer Achseln. Mir ist eure Körperbehaarung scheißegal.
Dieses Buch gehört auch nicht zu der Flut der Ratgeber, die euch bei der Navigation durch die heimtückische Maschine des Patriarchats hilft, wo wir die Maschine doch zerstören und mit möglichst vielen Freunden die Fabrik verlassen müssen. Die Welt braucht keinen weiteren Leitfaden dafür, wie wir uns in Würde in eine Welt fügen, die uns in den Selbsthass treibt. Besonders Frauen und Mädchen brauchen keine weiteren Regeln dafür, wie sie leben, arbeiten, sich pflegen, lieben sollen. Es gibt schon zu viele Regeln, und oft widersprechen sie einander. Seit meinem fünften Lebensjahr lese ich neben Bergen feministischer Theorie auch die rosaroten Ratgeber, und trotzdem habe ich keine Ahnung, wie ein braves Mädchen aus mir werden soll, und wenn ich es wüsste, würde ich es euch nicht sagen.
Ich will euch nicht vorgeben, wie ihr Feministinnen werdet oder ob ihr überhaupt welche werden sollt. Ich bezeichne mich als Feministin, um Leute ins Bett zu kriegen und mir in der Bar die Widerlinge vom Hals zu halten, aber Feminismus ist keine Identität. Feminismus ist ein Prozess. Nennt euch, wie ihr wollt. Wichtig ist, wofür ihr kämpft. Fangt jetzt an.
1
Abgefuckte Mädchen
»Sie werden mich lieben für das, was mich zerstört.«
Sarah Kane, 4.48 Psychose
Der Teppich hat die Farbe von Rotz und stinkt nach Bleiche. Ich weiß das, weil ich mein Gesicht hineinpresse. Ich liege reglos da, damit mich die Krankenschwestern nicht finden, auf dem schaurig schnodderfarbigen Boden, aus dem der Schmutz menschlicher Schädel herausgeschrubbt wurde, bis in die tiefste Faser, wie überall auf der Station. Kein Staubkrümel, kein Fettfleck ist in diesem Krankenhaus erlaubt, in dem sogar die Freundlichkeit klinisch rein ist und mich erstickt wie eine desinfizierte Zudecke. Ich bin siebzehn Jahre alt und verstecke mich unter dem Bett.
Es ist das Jahr 2004, und ich müsste mich in der Schule auf meine Prüfungen vorbereiten. Stattdessen bin ich auf einer psychiatrischen Station für Menschen mit lebensbedrohlicher Magersucht und verwende meine gesamte Energie darauf, mich immer wieder vor den Krankenschwestern zu verstecken, die Tag und Nacht alle zehn Minuten vorbeikommen und nachsehen, ob wir unser Proteinpulver ausgekotzt oder eine CD zerbrochen und mit den Splittern wütende Worte tief, sehr tief in das Fleisch unseres Unterarms geritzt haben. Beides ist in den vergangenen Wochen vorgekommen. Ich weiß es noch, weil das mit dem Ritzen meine Zimmergenossin war und sie meine Sleater-Kinney-CD dafür benutzt hat. Ich habe nichts so Groteskes vor. Ich will nur mehr als zehn Minuten am Stück allein sein mit meinem Notizbuch, allein mit meinen Gedanken, irgendwo, wo mich niemand ansehen kann.
So liege ich zitternd unter dem Bett. Auf meinem Rücken wächst ein feiner weicher Flaum; das geschieht, wenn du in einem kalten Land lebst und gefährliches Untergewicht hast. Der Körper versucht sich auf jede erdenkliche Weise warm zu halten. Deshalb kauerst du, hemmungslos schlotternd, an einer Heizung und bemühst dich erfolglos, gegen die Kälte anzukommen, die dir mit eiskalten Fingern in die Knochen stochert. Deine Persönlichkeit rinnt davon. Du bist zu einer Kreatur geworden, die hungert, scheißt, kotzt und zittert, und das war’s auch schon. Du kannst nicht klar denken. Dein Äußeres verschreckt deine Freunde und deine Familie. Wegen des Nährstoffmangels treibt dich nur noch das Adrenalin an, du wirst zu einem primitiven Ding, das, ohne es zu wollen, jeder Art von Nahrung nachjagt, Mülleimer durchwühlt, sich mit den Händen Müsli in den Mund stopft, um es gleich darauf in Panik wieder zu erbrechen. Du bist ein Häuflein Elend. Die Haare werden dünn und fallen aus. Du machst zwanghaft Sit-ups und Liegestütze, rennst mehrere Kilometer am Tag, obwohl du nicht mehr als ein paar Löffel dünnen Haferschleim im Magen hast.
Du machst das nicht um der Schönheit willen. Du weißt, du siehst grauenhaft aus. Du tust es, weil du verschwinden willst. Du willst nicht mehr angeschaut werden. Du bist es leid, angesehen und beurteilt und für mangelhaft befunden zu werden. Du willst nicht erwachsen werden, fülliger werden, dich auf gesunde und positive Weise auf Sex einlassen. Vor allem bist du es leid, beobachtet zu werden. Du hast das dir Mögliche getan, artig zu sein, und trotzdem hast du versagt, und nun bist du eins dieser abgefuckten weißen Mädchen, die den Bach runtergehen.
Abgefuckte weiße Mädchen. Die Buchauslagen und Zeitschriftenständer in den Städten quellen über von Geschichten über abgefuckte weiße Mädchen, schöne kaputte Püppchen, die mit der Freiheit und den Chancen, die sie geerbt haben, nicht zurechtkommen, die armen Dinger. Wir fetischisieren diese Mädchen, fotografieren sie, retuschieren