Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution. Laurie Penny

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Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution - Laurie Penny Nautilus Flugschrift

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gerade so, als stimmte der alte Aberglaube und die käferschwarzen Geräte raubten einem Menschen mit jedem Schnappschuss die Seele. Das Scheitern ist zu einem Modeaccessoire geworden, einem Luxus. Dem Leben nicht gewachsen zu sein, ist cool. Das Koksen, das Saufen, die Essstörungen, die hauchdünne transzendente Schönheit einer jungen Frau, die reich genug ist, um sich im Falle eines Zusammenbruchs eines Unterstützungssystems gewiss sein zu können: Das ist mittlerweile ein fester Bestandteil des neoliberalen Weiblichkeitsmythos, und der Konsum – das junge Mädchen, in den Wahnsinn getrieben, beginnt, sich selbst zu konsumieren, Knochen zehren Muskeln auf, die sich ihrerseits von Drogen und Narzissmus nähren, eine prachtvolle Neurose –, dieser Konsum ist der Gipfel und die Verkörperung dessen, was Frauen sein sollen, was das moderne Leben sein soll: Wir essen uns von innen heraus auf. Wir streben nach Perfektion und sind kreuzunglücklich dabei. Alles zu haben, schließt die Selbstverwirklichung nicht unbedingt ein. Dafür sind ja die Läden da.

      Das elegante Sichauflösen ist das Spiel des reichen Mädchens, das Spiel des weißen Mädchens, das Spiel des Modemädchens. Das macht uns jedenfalls die Klatschpresse weis. Natürlich ist das Schwachsinn. Wenn man der Sache auf den Grund geht, bis auf das Fleisch, den Rotz und die Knochen, interessiert sich absolut niemand für das Innenleben des abgefuckten Mädchens, ihre unglamourösen alltäglichen Zusammenbrüche, das echte Bemühen, sich auf den Druck, die Widersprüche und die täglichen Demütigungen einzustellen, aus denen die weibliche Realität im Westen des 21. Jahrhunderts besteht, nicht nur in Chelsea und der Upper West Side, sondern überall. Im richtigen Leben erwischt es Mädchen verschiedenster Herkunft, in Vorstädten und in Gettos, in Provinznestern und auch auf der Südhalbkugel; sie schlucken ihre Wut hinunter und lassen sie an ihrem Körper aus, und überall wird es schlimmer.17 Nicht zufällig wird auch eine andere klinische Diagnose Frauen viel öfter gestellt als Männern: Anpassungsstörung.18 Du hast es eben nicht geschafft, dich angemessen den sozialen Erwartungen anzupassen.

       Raum einnehmen

      Acht Jahre später. Frühling in New York City. Das Mädchen, das mir am Tisch gegenübersitzt, macht seltsame Sachen mit einem Sandwich. Sie hat es in vier gleich große Teile geschnitten und nimmt jetzt mit spitzen Fingern jedes Viertel auseinander, als wäre es eine Bombe, die gleich explodiert; sie wischt die Mayonnaise mit einer Serviette vom Brot, stapelt Schinken und Salat sorgfältig zu gleich großen Häufchen, gibt auf jedes einen winzigen Tupfer Senf und isst sie dann hastig und mit zitternden Händen. Man sollte meinen, dass das den anderen Leuten im Café auffällt, aber wir sind in New York, wo der Anblick hungriger, hohläugiger, rituell fastender Frauen zur Gewohnheit geworden ist.

      Ich betrachte das Spiegelbild des Mädchens im Fenster des Cafés. Ich habe nichts mit ihr gemein, außer, dass ich zufällig dieselbe Person bin. Oder besser gesagt waren wir dieselbe Person, vor einer Ewigkeit, damals, als ich mit Magersucht in die Klinik kam. Es ist drei Jahre her, seit ich wieder vollständig genesen bin, doch hin und wieder, immer um diese Jahreszeit, schleichen sich die alten bizarren Gewohnheiten wieder ein: Essen wird zum Feind, jeder Spiegel zum Verräter. Ich weiß nicht genau, was mit der mageren unglücklichen Siebzehnjährigen, die ich einst war, geschehen ist. Ich glaube fast, ich habe sie aufgegessen in den langen Monaten, in denen ich gelernt habe, dass es in Ordnung ist, wenn ich Raum einnehme. Aber in den Straßen der größeren Städte sehe ich jeden Tag Menschen wie sie, Geistermenschen, die ins Leere starren, mit spindeldürren Gliedern, angetrieben von manischer Energie, dick eingepackt gegen die Kälte, gegen die sie nicht ankommen, Frauen aller Altersstufen, und mindestens 15 Prozent sind Männer.

      Essstörungen gelten nach wie vor als typische Erkrankungen hübscher junger weißer Frauen, und das erklärt wohl, warum nach den vielen Jahren, in denen »ein Bewusstsein dafür geschaffen« wurde, jede Menge Glamour und eine rätselhafte Aura diese tödlichste aller psychischen Krankheiten umgeben, aber herzlich wenig Erkenntnisse dazu vorliegen. Auch nach Tausenden dramatischer Zeitschriftenartikel, die praktischerweise mit Fotos halbnackter traurig dreinblickender Models illustriert werden können, nimmt die Zahl der Erkrankungen noch zu, und wir sind der Lösung eines der großen Rätsel des modernen Lebens keinen Schritt näher gekommen: Warum hungern sich eigentlich so viele der klügsten und besten jungen Menschen langsam zu Tode?

      Ein besserer Schuldiger als »die Zeitschriften« fällt uns dazu nicht ein. Das sagt mehr darüber aus, welche Gedanken die Gesellschaft im Kopf weiblicher Teenager vermutet, als über die Ursache einer Epidemie, die jedes Jahr Tausende junger Menschen umbringt und unzählige weitere dazu bringt, in einem Leben dahinzuvegetieren, in dem die schönsten Träume auf die Größe eines Tellers geschrumpft sind.

      Über Essstörungen sollte man vor allem eines wissen: Hungern, Sich vollfressen, Abführen und Erbrechen sind nicht die Ursachen des Elends. Es sind die Symptome. Die Krankheiten stecken voller Widersprüche. Der Hunger nach Nahrung, nach Ruhe, nach Spaß, nach Sex, nach Freiheit wird unterdrückt, obwohl sich die Kranke bis zur Schwelle des Todes danach verzehrt.19 All diese Krankheitsbilder prägt ein kompliziertes Wechselspiel aus Aggression und Konformität. Essstörungen treten auf, wenn sich jugendliche Rebellion kannibalisiert.

      Und sie lassen sich leichter verbergen als die meisten anderen psychischen Krankheiten, zumal in einer visuellen Kultur, in der wir uns an den Anblick extrem unterernährter junger Menschen gewöhnt haben. Erkrankungen, die nicht unbedingt zu extremem Gewichtsverlust führen, wie die Bulimie und das Binge Eating, das sich durch Essattacken auszeichnet, lassen sich relativ leicht geheim halten – zumindest eine Zeit lang. All diese Krankheiten fordern von Gehirn und Körper kurz- und langfristig einen schrecklichen Tribut, da die Betroffenen mit allen nur möglichen gefährlichen und grotesken Methoden ihr Gewicht zu regulieren versuchen, vom Aderlass über Drogenmissbrauch und übermäßigen Sport bis hin zum Erbrechen, das mit der Zeit die Wangen anschwellen und durch die Magensäure die Zähne verfaulen lässt. Das ist nicht hübsch. Es ist das garstige Geheimnis hinter einem Gutteil der modernen Schönheitskultur, und das größte Geheimnis lautet: Es ist überhaupt nicht geheim.

      Nichts davon ist geheim. Viele junge Menschen tun ihrem Körper rituell Gewalt an. Essstörungen, chronisches Ritzen und andere, weniger sichtbare Formen der Selbstverletzung wurden in den letzten zehn Jahren in einer explosionsartig ansteigenden Zahl diagnostiziert, besonders bei Mädchen, jungen Queers und allen, die unter besonderem Druck stehen, sich anzupassen.

      Es gilt, die Fassade zu wahren, auch wenn sich dahinter ein wutschnaubendes Wrack verbirgt. Wir wissen, dass »gutes« Aussehen für eine Frau Opfer, Schwäche, harte Arbeit, Krankheit, ja den Tod bedeuten kann. Die Schönheitsund Konformitätsrituale sind anstrengend, und wenn eine Frau zufällig von Natur aus aussieht wie ein Laufstegmodel, wird ihr vorgeworfen, sie habe gemogelt. Die dünne, elende Frau, die für die Kontrolle über ihren Körper Gesundheit, Glück und Geld opfert, hat mehr soziales Kapital als die dicke Frau, die Wichtigeres im Kopf hat.

      Von allen weiblichen Sünden ist Hunger die unverzeihlichste; Hunger egal wonach, nach Essen, Sex, Macht, Bildung, ja Liebe. Wenn uns nach etwas verlangt, haben wir dieses Verlangen zu verbergen, zu bändigen, uns zu beherrschen. Wir haben Objekte des Verlangens zu sein, nicht verlangende Subjekte. Wir brauchen kein Essen: Wir sind Essen, dressierbares Fleisch, Lämmer, die sich nach Bratensoße anstellen. Wir konsumieren nur das, was man uns sagt, vom Lippenstift bis zur Lebensversicherung, und auch nur das, was uns konsumierbar macht, auf dass wir besser zerkaut und verschluckt werden können von der Maschine, die unsere Arbeit, unser Geld, unsere Sexualität in mundgerechten Happen verschlingen will.

      Auch Männer erleben natürlich die Überwachung ihres Körpers, und für Übergewicht hagelt es echte Strafen. Allerdings sind diese Strafen meist nicht so existenziell; von sehr wenigen Berufen einmal abgesehen, können Männer davon ausgehen, dass sie zuerst als Seele und dann als Körper beurteilt werden. Die Körperlichkeit gilt bei Männern nicht als alles, was sie einzubringen haben. Selten muss sich ein übergewichtiger oder ungepflegter Mann anhören, dass er bestimmt einen einsamen Tod sterben

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