Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden. Selma Lagerlöf
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Der Rattenfänger
Nach langem Suchen gelang es den grauen Ratten kurz vor Mitternacht, eine offene Kellerluke aufzuspüren. Sie befand sich ziemlich hoch in der Mauer, doch bald sprang die tapferste Ratte hinein, mit der Absicht, Glimmingehus zu bestürmen, vor dessen Mauern so viele ihrer Vorfahren ihr Leben gelassen hatten.
Die graue Ratte blieb eine Weile in der Luke sitzen und wartete auf einen Angriff der Verteidiger. Sie nahm an, dass sich die schwarzen Ratten, die in der Burg geblieben waren, nicht ohne Kampf ergeben würden. Mit klopfendem Herzen lauschte sie auf das leiseste Geräusch, doch alles blieb still. Da fasste sie Mut und sprang in den kohlrabenschwarzen Keller.
Eine Ratte nach der anderen folgte der Anführerin. Alle bewegten sich geräuschlos, alle rechneten mit einem Hinterhalt der schwarzen Ratten.
Obwohl sie noch nie in diesem Gebäude gewesen waren, fanden sie sich ohne Schwierigkeit zurecht. Sie entdeckten die Gänge im Mauerwerk, mit deren Hilfe die schwarzen Ratten in die oberen Stockwerke gelangten. Bevor sie diese engen, steilen Stiegen erklommen, horchten sie wieder mit großer Aufmerksamkeit. Sie hätten sich vor einem offenen Kampf mit den schwarzen Ratten viel weniger gefürchtet als jetzt, wo diese sich versteckt hielten.
Schon am Eingang des ersten Stocks verspürten sie den Geruch des Getreides, das in großen Haufen auf dem Fußboden lag. Doch noch war es nicht Zeit, die Früchte des Sieges zu genießen. Sie durchsuchten zuerst mit größter Sorgfalt die düsteren, kahlen Räume und machten sich dann mit derselben Vorsicht an die Eroberung des nächsten Stockwerks. Wieder mussten sie eine mühselige, gefährliche Kletterpartie durch das Mauerwerk unternehmen, während sie atemlos vor Angst darauf warteten, dass sich der Feind auf sie stürzte. Obwohl die Getreidehaufen mit den herrlichsten Düften lockten, beherrschten sie sich und untersuchten so gründlich wie möglich den ehemaligen Raum der Soldaten mit seinen Pfeilern, dem steinernen Tisch und dem Kamin.
Noch immer waren die schwarzen Ratten nicht zu sehen. Die grauen tasteten sich hinauf zum dritten Stock mit dem großen Festsaal des Burgherrn, und sie drangen sogar bis in das oberste Stockwerk vor, das nur aus einem großen, leeren Raum bestand. Das Einzige, was sie zu untersuchen vergaßen, war das große Storchennest auf dem Dach. Dort war die Kauzfrau gerade dabei, Akka aus dem Schlaf zu wecken und ihr mitzuteilen, Flammea, die Schleiereule, habe ihren Wunsch erfüllt und das Verlangte geschickt.
Nachdem die grauen Ratten derart gewissenhaft die ganze Burg durchforscht hatten, fühlten sie sich sicher und machten sich frohen Herzens über die Getreidehaufen her.
Doch kaum hatten sie die ersten Weizenkörner verschlungen, da ertönte vom Hof der scharfe, schrille Ton einer kleinen Pfeife. Die grauen Ratten hoben die Köpfe, lauschten beunruhigt, liefen ein paar Schritte, als wollten sie die Getreidehaufen verlassen, kehrten jedoch um und fraßen weiter.
Wieder ertönte die Pfeife schrill und durchdringend, und jetzt geschah etwas Merkwürdiges. Eine Ratte, zwei Ratten, ja, eine ganze Anzahl von Ratten verließ das Getreide und eilte auf dem kürzesten Weg in den Keller, um ins Freie zu gelangen. Trotzdem blieben viele graue Ratten zurück. Sie dachten daran, mit welcher Mühe sie Glimmingehus erobert hatten, und wollten es nicht verlassen. Doch die Töne der Pfeife drangen noch einmal zu ihnen vor. Da stürzten sie in wilder Hast aus den Verschlägen, huschten durch die engen Mauerlöcher und hatten es mit dem Hinauskommen so eilig, dass sie durcheinanderpurzelten.
Mitten im Hof stand ein kleiner Knirps, der auf einer Pfeife blies. Er hatte schon einen ganzen Kreis von Ratten um sich versammelt, die ihm entzückt und hingerissen lauschten, und jeden Augenblick kamen mehr dazu. Als er einmal nur für eine einzige Sekunde die Pfeife aus dem Mund nahm, um den Ratten eine lange Nase zu machen, sah es aus, als wollten sie über ihn herfallen und ihn totbeißen, doch sobald er weiterblies, hatte er sie wieder in seiner Gewalt.
Als der Knirps sämtliche grauen Ratten aus Glimmingehus herausgepfiffen hatte, verließ er langsam den Hof und zog auf die Landstraße. Alle grauen Ratten liefen hinter ihm her, denn die Töne der Pfeife klangen in ihren Ohren so lieblich, dass sie ihnen nicht widerstehen konnten.
Der Knirps führte sie an und lockte sie auf die Straße nach Vallby. Er führte sie in allen möglichen Windungen und Winkeln und Kreisen, durch Hecken und Gräben, und sie mussten ihm folgen, wohin er ging. Die Pfeife, die er unaufhörlich blies, schien aus einem Tierhorn gemacht zu sein, jedoch aus einem so kleinen, dass es in unseren Tagen kein Tier gibt, von dessen Stirn es stammen könnte. Auch wusste niemand, wer die Pfeife hergestellt hatte. Die Schleiereule Flammea hatte sie im Dom von Lund, in einer Nische des Turms gefunden und dann dem Raben Bataki gezeigt. Beide waren sie dahintergekommen, dass dies eine Pfeife war, wie man sie in früherer Zeit benutzte, um Ratten und Mäuse zu bezwingen. Der Rabe aber war mit Akka befreundet, und die hatte auf diese Weise erfahren, dass Flammea einen solchen Schatz besaß.
Und tatsächlich: Die Ratten konnten der Pfeife nicht widerstehen. Der Junge ging vor ihnen her und blies, solange die Sterne leuchteten, und sie folgten ihm die ganze Zeit. Er blies in der Morgendämmerung, er blies, als die Sonne aufging, und die ganze Schar der Ratten folgte ihm und wurde immer weiter von den großen Kornböden auf Glimmingehus weggelockt.
Der große Kranichtanz auf dem Kullaberg
Dienstag, den 29. März
Obwohl man in Schonen viele prächtige Gebäude sehen kann, muss man zugeben, dass keins von ihnen so schöne Wände hat wie der alte Kullaberg.
Der Kullaberg ist niedrig, langgestreckt und ausgedehnt, ohne einen scharfen Kamm. Auf seinem flachen Rücken erstrecken sich Wälder und Felder und ein paar Heideflächen. Hier und da ragen runde Hügel mit Heidekraut und nackte Steinbuckel auf. Dort oben ist es nicht besonders schön und genauso wie in jeder anderen hochgelegenen Gegend von Schonen.
Wer auf der Landstraße wandert, die mitten über den Berg führt, wird von diesem Anblick ein wenig enttäuscht sein. Doch vielleicht weicht er vom Wege ab, geht an den Rand der Hochfläche und schaut die steilen Hänge hinunter. Dann entdeckt er auf einmal so viel Sehenswertes, dass er kaum weiß, wie er all das mit seinen Augen aufnehmen soll. Der Kullaberg liegt nämlich nicht von Ebenen und Tälern umgeben im Land, sondern hat sich so weit ins Meer hinausgestürzt, wie es ihm möglich war. Er hat nicht das kleinste Stückchen Boden an seinem Fuß, das ihn gegen die Meereswellen schützen könnte, die bis an seine Wände schlagen und sie abtragen und formen, wie es ihnen beliebt.
Daher sind diese Felsenwände auch so reich verziert, wie das Meer und sein Gehilfe, der Wind, es vermochten. Da gibt es schroffe Klüfte, die tief in die Hänge geschnitten sind, und schwarze Felsenvorsprünge, die von den ständigen Peitschenschlägen der Brandung blankgeschliffen wurden. Da gibt es einzelne Felsensäulen, die senkrecht aus dem Wasser ragen, und dunkle Grotten mit schmalen Eingängen. Es gibt senkrechte, nackte Felsenwände und sanfte, laubbekleidete Hänge. Es gibt stattliche Felsentore, die sich über dem Wasser wölben, es gibt scharfkantige Steine, die der weiße Schaum ständig bespritzt, und andere, die sich im schwarzgrünen, reglosen Wasser spiegeln. Es gibt in den Felsen gemeißelte Riesentöpfe und riesige Spalten, die den Wanderer locken, sich in die Tiefe des Bergs hineinzuwagen.
Und über alle diese Klüfte und Klippen, hinauf und hinunter, kriechen und winden sich Ranken und Wurzeln.